Die Wende von unten
Sieben lange Jahre arbeitete Ingo Schulze an seinem neuen Roman „Neue Leben“ – eine Zeit, die, wie in diversen Interviews zu lesen war, auch von einer tiefgreifenden „ästhetischen Verunsicherung“ geprägt war.
Im Resultat entzieht sich der Erfolgsautor von „Simple Stories“ nun den hoch gespannten Erwartungen von Kritik und Publikum an den angekündigten „Wenderoman“ schlitzohrig durch eine literarische Finte: Kurzerhand tritt er nur als Herausgeber und sparsamer Kommentator eines vorgeblich im Jahre 1990 entstandenen Briefkonvoluts des in Dresden geborenen und aufgewachsenen Enrico Türmers auf, mit dem er einst Fußball gespielt und im Chor gesungen habe. In den intensiv nachrecherchierten und chronologisch geordneten Briefen habe sich ihm, wie Ingo Schulze in seinem Vorwort anmerkt, „das Panorama jener Zeit [entfaltet], in der das Leben Türmers auf der Kippe gestanden hatte und nicht nur seins“. Die Briefe Enrico Türmers sind an seine Schwester Vera, seinen Freund Johann und die West-Bekanntschaft Nicoletta adressiert. Während er vor letzterer sein ganzes Leben ausrollt, rekapituliert er in den anderen Briefen seine aktuellen Erlebnisse in einer historischen Umbruchsituation. Brief für Brief setzt sich so ein Wende-Leben zusammen – vom frühjugendlichen Wunsch ein Schriftsteller zu werden führt es über das Altenburger Theater und einen Redakteursposten im neugegründeten „Altenburger Wochenblatt“ zur Herausgabe eines einzig auf Gewinn ausgerichteten Anzeigenblattes (und setzt sich nach der Wiedervereinigung, wie wir allerdings nur aus dem Vorwort erfahren, bis zum spurlosen Verschwinden als hochverschuldeter Spekulant und Bankrotteur fort).
Verwandlung in einen lupenreinen Kapitalisten
Türmers Karriere erscheint nach dem Verlust aller Utopien als eine durchaus folgerichtige und vielleicht auch exemplarische, denn, so fragt er sich in einem seiner Briefe desillusioniert: „Was sollte ich, ein Schriftsteller, ohne Mauer? Während sich Enrico Türmer mit Unterstützung des skurrilen Unternehmensberaters und Lebemannes Barrista in einen lupenreinen Kapitalisten verwandelt, ziehen gleichsam am fernen Horizont noch einmal die historischen Wende-Ereignisse vorbei, bei denen er unentschlossener Mitläufer blieb: Versammlungen des Neuen Forums in der heimischen Wohnung, Diskussionen, Aufrufe, Kanzelreden, Montagsdemos und Misshandlungen der Demonstranten durch Stasileute und VoPos.Ingo Schulze schreibt in seinem voluminösen, fast 800 Seiten umfassenden Briefroman eine subjektive und – wie hämische Kommentare des Herausgebers zeigen nicht immer den Tatsachen entsprechende – Geschichte „von unten“ und verzichtet auf eine alles überblickende und einordnende Erzählerstimme. Er zeigt im Kleinen, wie sich Leben und Mentalitäten in den Jahren 1989 und 1990 wandeln und brechen und wie der Westen unaufhaltsam in die Köpfe der Menschen im Osten flutete. Letztlich vermag Ingo Schulze in seinem neuen Roman allerdings trotz einiger Kunstgriffe und kommentatorischer Schelmereien literarisch nicht voll zu überzeugen. Allzu schlicht, zuweilen auch mit einem Hauch von Kitsch kommt die Prosa der Briefe daher und der dramaturgische Spannungsbogen bleibt durch die geschwätzige Schilderung der Alltags-Banalitäten und Befindlichkeiten des Protagonisten reichlich flach. Alles in allem bietet Ingo Schulze so in „Neue Leben“ keinen spritzigen Lese-genuss, dafür aber ein aufschlussreiches Schaustück deutscher (Sozial-)Geschichte.
Karsten Herrmann
Ingo Schulze: Neue Leben. Berlin Verlag, 792 S., 22 Euro. ISBN: 3-8270-0052-1