Geschrieben am 12. Oktober 2013 von für Bücher, Crimemag, Film/Fernsehen

In Buch und Film: Kate Atkinson und Richard Curtis lassen Zeitreisen

Kate-Atkinson-Die-UnvollendeteAchtung, Schmetterlingseffekt!

– Zeitreisen faszinieren. Ob im Film oder in der Literatur, die Beschäftigung mit dem Schmetterlingseffekt, der möglichen Paradoxa und natürlich die naheliegendste aller Fragen “Kann ich Hitler töten?”, fesselt Leser und Filmfreunde gleichermaßen. Anne Schüßler hat sich das genauer angeguckt. Einmal im Buch und einmal im Film.

Das Schöne am Zeitreisenmotiv ist, dass es so unglaublich flexibel und beinahe universell einsetzbar ist. Nicht, dass es unbedingt einfach einsetzbar wäre, denn gerade hier lauern Logiklöcher an jeder Ecke, aber es funktioniert so genreübergreifend, dass es von Science Fiction über Fantasy, bis hin zu Thriller, Drama, Liebesgeschichte und Komödie überall seinen berechtigten Platz finden kann. Dabei sind die Mechanismen vielfältig, ob es nun eine tatsächliche Zeitmaschine wie der aufgerüstete DeLorean der “Zurück in die Zukunft”-Reihe, oder eine Genmutation wie in Audrey Niffeneggers “Die Frau des Zeitreisenden” ist, ob sich, wie in Stephen Kings “Der Anschlag”, in der Ecke eines schmutzigen Diners ein Zeitloch befindet oder die Hintergründe einfach nicht erklärt werden, wie in dem zugegebenermaßen doch etwas kitschig geratenen Liebesfilm “Das Haus am See”. Alles scheint möglich.

Auch in den folgenden zwei Fällen hat sich das Grundmotiv der Zeitreise und seiner Nebenwirkungen in Genre verirrt, die weder der typischen Science Fiction noch der klassischen Fantasy angehören. Kate Atkinsons “Die Unvollendete” ist vielmehr eine Familiengeschichte im England der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und Richard Curtis’ neue Komödie “Alles eine Frage der Zeit” spielt auf maximal charmante Art und Weise mit der Frage, was man machen würde, wenn man in der Lage wäre, in der Zeit zurückzureisen und das eigene Leben zu beeinflussen.

In beiden Geschichten bildet das Element der Zeitreise die Basis, auf der die Handlung aufbaut und sich in fast epischer Breite entfalten kann. Einmal als Element etabliert, wird der Mechanismus zwar regelmäßig, aber ebenso beiläufig benutzt, um die Story voranzutreiben.

Mehr Leben als eine (sprichwörtliche) Katze

Atkinsons Protagonistin Ursula lebt immer und immer wieder. Das erste Mal stirbt sie noch während der Geburt im Januar 1910, beim zweiten Mal klappt es dann schon besser, aber das Leben ist bekanntlich eines der gefährlichsten und so ertrinkt sie, fällt aus dem Fenster, stirbt an Fieber oder kommt in einem Londoner Luftschutzkeller ums Leben. Und jedes Mal bekommt sie eine Chance auf ein neues Leben, eine Chance es besser, es “richtiger” zu machen, nicht zu ertrinken, nicht aus dem Fenster zu fallen und im Zweifelsfall die irische Haushaltshilfe die Treppe hinunter zu stoßen, damit diese nicht nach London fahren kann und sich da nicht mit der Spanischen Grippe anstecken kann.

Ursula selbst weiß nichts von ihrer besonderen… wie soll man es nennen? Gabe? Begabung? Fähigkeit? Sie erklärt es sich als Déjà-Vu und wird sogar zum Psychiater geschickt, aber letztlich bleiben ihre (Vor-)Ahnungen unerklärt und unerklärlich, sie lebt mit ihnen und gelegentlich handelt sie auch nach ihnen, intuitiv und impulsiv. Sie nimmt einen anderen Weg, trifft eine andere Entscheidung, bleibt in England oder geht nach Paris oder nach München, heiratet oder heiratet nicht. Jede neue Entscheidung bedeutet ein neues Leben, und jedes neue Leben bedeutet neue Chancen. Neue Chancen, es richtig zu machen, aber auch neue Chancen, kleine und große Fehler zu machen.

Vor dem Hintergrund des zweiten Weltkrieges, des von Bombenangriffen erschütterten Londons und eines nationalsozialistischen Deutschlands breitet sich die Familiengeschichte der Todds in fast epischer Breite aus. Breite ist hier durchaus als Gegenkonzept zu der üblichen epischen Länge solcher Geschichten zu sehen. Die Zeitspanne beträgt weniger als 40 Jahre, das Personal bleibt begrenzt, auch die Schauplätze sind überschaubar. Doch indem Atkinson ihre Heldin immer wieder leben lässt, lernen wir auch ihre Eltern und Geschwister, ihre unangepasste Tante Izzie, ihre Ehemänner, Freunde und Liebhaber von immer wieder anderen Seiten kennen. Denn so, wie Ursula durch kleine Entscheidungen ihr Leben in andere Bahnen lenkt, so beeinflusst sie auch das Leben ihrer Mitmenschen.

Hat man sich nach den ersten Kapiteln an die etwas eigenwillige Idee, eine Geschichte immer wieder neu zu erzählen, gewöhnt, so wird man reichlich belohnt. Am Ende bleibt die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ein Leben ohne falsche Entscheidungen zu führen. Die Antwort, und das sollte uns mehr beruhigen als verunsichern, lautet vermutlich nein.

Augen zu und zurück!

Auch der junge Tim (Domhnall Gleeson) muss in Richard Curtis’ (“Vier Hochzeiten und ein Todesfall”, “Tatsächlich… Liebe”) diese Erfahrung machen. Mit 21 eröffnet ihm sein Vater ein im wörtlichen Sinne fantastisches Familiengeheimnis: Alle Männer der Familie können in der Zeit reisen. Das geht folgendermaßen: Man stellt sich in einen dunklen Raum, also eine Abstellkammer oder einen Kleiderschrank oder etwas ähnliches, ballt die Hände zu Fäusten und denkt ganz fest an den Ort und den Moment, an den man zurückkehren will. Dementsprechend kann man auch nur innerhalb der eigenen Lebenszeit reisen und nur an Orte, die man kennt. Hitler töten ist in diesem Fall also sowieso nicht möglich.

Tim hat allerdings auch ganz andere Ziele. Ihm reicht es schon, wenn er mit seiner Gabe eine Freundin finden würde. Das tut er dann auch, mit einigen Anlaufschwierigkeiten. Während Trailer und Filmbeschreibung ein wenig den Eindruck machen, als stünde allein die Eroberung seiner Angebeteten Mary (Rachel McAdams) im Fokus des Films, so fängt es hier eigentlich erst an und Curtis entspinnt erwartet souverän ein wunderbar charmantes Handlungsgeflecht, in dessen Zentrum Mary, Tim und seine Familie leben, lieben, lachen und weinen.

Die Bedeutung des Schmetterlingeffekts wird hier ebenso offensichtlich wie die ebenso interessante Frage, was man tun würde, wenn man alles noch mal tun könnte und zwar (anders als Kate Atkinsons Ursula Todd) mit dem Wissen darüber, wie es sonst wäre. Rette ich die ganze Welt oder mache ich nur meine eigene ein bisschen schöner? Was kann ich ändern und was nicht? Und welche schmerzvollen Erfahrungen muss ich möglicherweise machen, weil sie auf keinem Alternativzeitstrahl vermieden werden können?

Um an dieser Stelle mal ein bisschen persönlicher zu werden: Ich habe in Edinburgh meinen Mann ein bisschen in diesen Film treten müssen. Romantische Komödien sind in diesem Haushalt nicht unbedingt das präferierte Kinogenre, die Skepsis war groß, der Mangel an Alternativen allerdings größer. Wenige Minuten nach Filmbeginn hörte ich ihn dann neben mir zum ersten Mal kichern. Kichern! Und dann immer wieder. Wenn man ihn jetzt danach fragt, sagt er, dass “Alles eine Frage der Zeit” einer der besten Filme ist, die er seit langer Zeit gesehen hat.

Es ist wahrscheinlich die Curtis’ Liebe zu seinen Figuren, die man diesem Film in jeder Minute anmerkt. Liebenswert sind sie, nie ohne Fehler, manchmal ein bisschen arg verschroben, aber nie überzeichnet. Und dann ist da natürlich noch Bill Nighy, in den man sich leider (mal wieder) sofort verlieben muss. “Alles zu seiner Zeit” kann man nicht nur gucken, man sollte sogar.

(Übrigens: Wer sich für die Frage, ob man Hitler töten kann und wenn ja, ob man es auch tun sollte, näher interessiert, der sollte zu Stephen Frys „Geschichte machen“ greifen. Es ist nämlich, wie eigentlich immer, ein bisschen kompliziert.)

Kate Atkinson: Die Unvollendete (Life After Life, 2013), Roman. Deutsch von Anette Grube. München: Droemer Verlag 2013. 592 Seiten, 19,99 Euro. Verlagsinformationen zur Autorin und zum Buch. Zum Blog von Anne Schüßler.

Alles eine Frage der Zeit (About Time), GB 2013. Regie: Richard Curtis. Darsteller: Domhnall Gleeson, Rachel McAdams, Bill Nighy. Deutscher Kinostart: 17.10.2013.

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