Literarischer Rohstoff
Krausser erzählt in „Eros“ die Geschichte einer Obsession und versucht zugleich im Schnelldurchlauf ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte Revue passieren zu lassen.
Mit Romanen wie „Der große Bogarazy“ oder zuletzt „UC“ hat sich Helmut Krausser in die erste Riege der deutschen Autoren geschrieben. Zehn, zwanzig Seiten lang lässt er auch im neuen Roman „Eros“ sein herausragendes literarisches Talent aufblitzen und macht Hoffnung auf ein wiederum großartiges Leseerlebnis. Doch dann liefert er mit einem literarischen Kunstgriff, der sich als Missgriff erweist, nur noch ungeschliffenen literarischen Rohstoff.
Kraussers Ich-Erzähler, ein Romanautor, wird vom schwerreichen und dem Tode nahe stehenden Industriellen Alexander von Brücken auf sein abgeschiedenes Schlösschen gerufen: „Es wird Zeit, etwas festzuhalten. Nicht unbedingt mein Leben, aber die Geschichte einer Liebe. Meiner Liebe.“
Über acht Tage diktiert von Brücken dem Schriftsteller sein Leben auf Tonband, damit dieser einen Roman daraus macht. Es sind die letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, in denen Alexanders von Brückens Leben eine entscheidende Wendung erfährt: Im Luftschutzbunker verliebt er sich in die Arbeiter-Tochter Sophie und erfährt diesen „riesigen, zugleich bodenlos lächerlichen Zauber der ersten Verliebtheit“. Gegen halsabschneiderische 50 Mark erkauft er sich sogar den ersten Kuss.
Doch dann wird Sophie aus München verschickt, Alexanders Familie kommt bei einem Bombenangriff ums Leben und er selbst erleidet ein Kaspar-Hauser-Schicksal. Nur durch einen Zufall kann der „taubstumme Kriegsirre“ doch noch sein Erbe antreten und Geschmack an der Macht finden. Doch zeitlebens bleibt er von seiner ersten Liebe gebannt und macht sich auf die Suche nach Sophie. Mit gigantischem Aufwand an Geld und Personal bleibt er, nachdem er sie wiedergefunden hat, wie ein Schatten über und neben ihr. Das Glück der Wiedervereinigung bleibt jedoch in weiter Ferne – zumal Sophie als gesuchtes Mitglied der Revolutionären Zellen in den 80ern Unterschlupf in der DDR findet.
Krausser erzählt in „Eros“ die Geschichte einer Obsession und versucht zugleich im Schnelldurchlauf ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte Revue passieren zu lassen. Doch nur selten wird Alexander von Brückens Obsession für den Leser zwingend nachvollziehbar und das Ziel der Begierde, Sophie, bleibt blass und fern. „Eros“, an dem Krausser seit 1997 mit immer neuen Updates arbeitete, ist ein unentschiedenes und oftmals allzu konstruiert und krude wirkendes Buch, das sich im Spagat zwischen der privaten und gesellschaftlichen Ebene verrenkt. Literarisch hat Krausser sich und dem Leser auch dadurch keinen Gefallen getan, dass sein Ich-Erzähler „entgegen von von Brückens ausdrücklichem Wunsch […] fast alles, was er mir auf Band sprach, im Wortlaut belassen“ hat. Das hat sich als nicht ausreichend erwiesen.
Karsten Herrmann
Helmut Krausser: Eros. Dumont 2006. 318 Seiten. 19,90 Euro.