Die Zukunft aller ist in jeder Handlung enthalten
– Harald Welzer fordert dazu auf, „selbst“ zu „denken“ & zu handeln. Von Wolfram Schütte.
„Selbstdenken“ nennt der Sozialpsychologe Harald Welzer sein jüngstes Buch, das mit seinen 329 Seiten auch noch eine „Anleitung zum Widerstand“ sein will. Der kürzlich gestorbene 96jährige Stéphane Hessel hatte mit seinem appellativen humanistischen Essay „Empört Euch!“ den Nerv des weitverbreiteten Unbehagens an einer durchökonomisierten Weltgemeinschaft getroffen, in der sich allerorten & auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen (auch ohne Hessels an die europäische Jugend gerichteten Appell) Rumor, Wut, Widerspruch äußert – wie z.B. erst jüngst in Istanbul oder Brasilien.
Der 1958 geborene Wissenschaftler Harald Welzer möchte die Welt- & Gesellschaftslage ebenso konkret erkennen, beschreiben & analysieren wie jedem Leser seines Buches offenbaren, welche Schlüsse er daraus ziehen & was er schließlich praktisch dagegen tun kann, resp. soll.
Welzers Buch stellt sich in der geistige Nachfolge der berühmten Kantischen Aufklärungsdevise „Wage, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Es versteht sich – rund 200 Jahre nach dem Diktum des Königsberger Philosophen & in einem ebenso weitaus komplexeren wie verfahreneren Weltzustand – gewissermaßen als radikaler Versuch einer Kritik qua praktischer Vernunft an der längst vorhandenen Erkenntnis der katastrophalen Lage, in der sich die Menschheit befindet – ohne dass daraus bisher die notwendig schubumkehrenden Schlüsse gezogen worden wären. Denn um Schubumkehr geht es beim Landeanflug der Zukunft auf das Gegenwartsgelände – sonst schießt die Menschheit ungebremst in ihrem gigantischen Luxus-Jet über die Landebahn hinaus in ihr mundiales Verderben.
Harald Welzer hat als Autor mehrerer weltweit erschienener Bücher bisher z.B. über die anthropologischen Grundlagen, die „ganz normale Menschen“ zu Massenmördern machten, ebenso geforscht wie über die drohenden „Klima“-Kriege der Zukunft. In „Selbstdenken“ tritt er nun nicht nur als kenntnisreicher Autor eines wissenschaftlichen Sachbuchs vor seine Leser; sondern zugleich ist er „existenziell“ involviert. Nämlich als jemand, der seine bisherige akademische Karriere an den Universitäten Flensburg & St. Gallen durch seine Tätigkeit als Direktor von „FUTURZWEI“ ergänzt hat. Seine „Stiftung Zukunftsfähigkeit“ in Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, private & öffentliche Beispiele aktiver Tätigkeit im Sinne der von Welzer geforderten „Nachhaltigen“, resp. „Reduktiven Moderne“ bekannt zu machen.
Mut für den Lebens-Alltag sammeln
Der ihm geistig als Warner verwandte FAZ-Herausgeber & „Ego“-Kritiker Frank Schirrmacher hat Welzer das FAZ-Feuilleton für solche Ermutigungsberichte geöffnet, gewissermaßen als publizistischer Sammelplatz für inspirierende „Vorscheine“ tätigen Widerstands eines Welzerschen Hoffens auf menschlichen Mut & Phantasie.
Der Linke Harald Welzer gehört einer Generation an, die nicht nur selbstverständlich „antifaschistisch“ ist, sondern auch den Untergang des Kommunismus erlebt & begrüßt hat. In beiden großen (mörderischen) Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts sieht er Menetekel einer Diktatur, die das prekäre 21.Jahrhundert auf keinen Fall nun als kollektiv verordneten Öko-Zwang imitieren soll. Deshalb vermeidet er bei seiner Fundamentalkritik des Kapitalismus – den er, wenn auch unausgesprochen, heute für ein Übel hält, das seine einstige Fortschrittlichkeit in destruktive Energie verwandelt hat – jede fixierte, übergreifende Idee als handlungsanweisende Zielvorstellung.
Nur kein „Ideologie“: das klingt als Refrain wie eine stetige Begleitmusik zu jedem kritischen An-& Eingriff des Sozialphilosophen Welzer. Er glaubt sich damit auch seinen gleichaltrigen oder jüngeren Lesern am nächsten. Diese Haltung, die alle bestehenden politischen Parteien für kontaminiert vom Konsumismus hält, erinnert ein wenig an Beppe Grillos „5Sterne“-Bewegung. Pasolini, der in den Sechzig/Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als erster den „Consumismo“ ins kritische Gespräch über den Kapitalismus brachte, wird nicht auch nur einmal von Welzer erwähnt. Womöglich weil der „Apokalyptiker“ PPP von einer irreversiblen „anthropologischen Mutation“ sprach.
Welzers virulente Angst vor Ideologien erlaubt ihm – so drängend & dräuend die Welt-Lage auch erscheinen mag – einzig pragmatisches, mit Fehlern kalkulierendes, transparentes Handeln, bzw. Unterlassen. Der „Widerstand“, zu dem Welzer „anleiten“ möchte, erinnert an die Empfehlungen, die z.B. Zuckerkranken für ihre Ernährung gegeben werden, nachdem man Diabetes bei ihnen diagnostiziert hat.
Es gibt ein Bild, einen Satz & einen Rilke-Appell, die einem bei der aufregenden Lektüre des ebenso eloquenten wie weit ausgreifenden Buches immer wieder einfallen – gerade weil sie vom Autor nicht zitiert werden. Der Satz lautet: „Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es!“ Der Rilke-Appell aus dem Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ hat gerade auch Peter Sloterdijk zu seinem jüngsten Buchtitel verholfen: „Du mußt Dein Leben ändern!“ Und das Bild ist jenes bekannte Plakat, auf dem der spitzbärtige Uncle Sam mit dem ausgestreckten Zeigefinger bedrohlich auf einen zeigt & einen zur US-Army ruft.
12 Regeln für den „Widerstand“ oder Askese leicht gemacht
So ruft Welzer seine Leser „zur Räson“, indem er einen immer wieder unvermutet anspricht & einem zuredet, sein eigenes & der Welt Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, obwohl er ihn beruhigt & ihm versichert, er habe „keine Verantwortung für die Welt“. Am Ende seines prismatisch leuchtenden Essays, der aus zahlreichen kleinen Abhandlungen besteht (& sich selbst als Beispiel anführt, dem die Leser nacheifern sollen), stellt er „12 Regeln für erfolgreichen Widerstand“ auf.
Deren erste lautet: „Alles könnte anders sein“. Welzer, der weiß, wie niederschmetternd die wissenschaftlichen Befunde über uns, unser Wirtschaften & konsumistisches Leben im Komfort des radikal destruktiven Kapitalismus ist, möchte den bequemen Ausweg in die Merkelsche „Alternativlosigkeit“ oder in die geistige Resignation versperren. Er fordert seine Leser auf, sich „ernst zu nehmen“, & aufzuhören, mit allem „einverstanden“ zu sein & „Widerstand“ zu leisten, „sobald Sie nicht einverstanden sind“. Es gelte für jeden bei uns, seine „Handlungsspielräume“ nicht nur in seiner nächsten Nähe wahrzunehmen & zu erweitern, sondern auch „Bündnisse“ mit Gleichgesinnten zu schließen.
Wenn jeweils nur 5% in allen gesellschaftlichen Bereichen durch eine solche moralische Bewegung aufgeweckt würden, hofft Welzer, würden diese „Avantgarden“ (eines uneinverständigen praktischen Handelns, Widerstehens & Lebens) die träge Mehrheit der Gesellschaft mit sich ziehen: in Richtung eines besseren Lebens & Wirtschaftens.
Man scheut sich ein wenig, weil einem solcher emphatischer Optimismus heute sonst nirgendwo mehr begegnet, den naheliegenden Einwand zu äußern, dass Welzer „idealistisch“ nicht nur mit seinen „Regeln für erfolgreichen Widerstand“, sondern auch mit seinem ganzen „Selbst denken“ den Mund zu voll nimmt, bzw. er ihm überläuft, weil er wie ein gerade überzeugter Erweckungsprediger die von ihm Angesprochenen mit allen rhetorischen Mitteln auf seine Seite ziehen will. Aber die spezifische Mischung aus radikal-kritischem Essay & persönlicher Ansprache, die Welzers nicht uncharmantes Buch ausmacht, provoziert diesen subversiven Eindruck einer moralischen Weltbetrachtung, die mir nicht unsympathisch ist.
Nicht vom Status-quo lähmen lassen
Auch habe ich den Eindruck, dass Welzers Aufforderung, selbst zu denken & zu handeln, heute schon weiter verbreitet ist, als man anzunehmen bisher gewagt hatte. Die neuartigen heutigen Kommunikationsmöglichkeiten sind dabei gewiss förderlich, weil sie rund um den Globus gewissermaßen in Echtzeit informieren, was alles den Nichteinverständigen eingefallen & deshalb andernorts wiederholbar ist. Auch „Idealismus“, der unterm Kosten/Nutzendiktat des kapitalistischen Wirtschaftens als un-, wenn nicht gar kontraproduktiv angesehen wird, kann effektiv & praktisch sein & werden; und das erzählte Gelingen kann zum Nachahmen & Fortsetzen verführen. „Von der Zukunft her denken“, vom Wünschen nach einem „richtigen Leben“ (dem Ziel aller Philosophie & „Lebenskunst“) das aktuelle beurteilen, ist allemal besser, sinnvoller, produktiver, belebender als sich vom „Statusquo“ lähmen zu lassen.
Wolfram Schütte
Harald Welzer: SELBST DENKEN. Eine Anleitung zum Widerstand. S.Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 2013. 329 Seiten. 19,99 Euro.