Geschrieben am 9. Januar 2013 von für Bücher, Litmag

Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966–1972

Hans Werner Richter_MittendrinGruppe 47: Lesezirkel, Debattierklub, Kontaktbörse, Marktplatz

– Plötzlich tauchen sie doch auf, die angeblich nicht existierenden Tagebücher von Hans Werner Richter: Der legendäre Gründer der Gruppe 47 liefert in „Mittendrin“ eine bestechende Bestandsaufnahme einer turbulenten Nachkriegsepoche nebst diffizilen, intriganten Beziehungsgeflechten. Von Peter Münder

War die Gruppe 47 Club, Clique oder Consortium? Vielleicht auch eine Art Freimauerer-Geheimbund? So rätselt Fritz J. Raddatz, der ja mehrmals als Gast-Kritiker (und Talent-Spotter) zu den Lesungen eingeladen war, in seinen faszinierenden „Unruhestifter“-Erinnerungen (CM-Rezension). Da es keinen ästhetischen Kanon gab, keine literarischen Richtlinien, weder Kassenwart noch Protokollführer existierten und sich der Kreis der Eingeladenen über Autoren hinaus um Kritiker, Lektoren und schließlich auch Verleger erweiterte, konnte diese disparate Gruppierung von den meisten Beobachtern nicht richtig eingeordnet werden.

Zur festen Regel gehörte nur: Eingeladene Autoren durften nur auf dem „elektrischen Stuhl“ ihre Texte vorlesen und mussten sich alle kritischen Einwände aus dem Plenum ohne Kommentar oder Widerspruch anhören – für bissige, rhetorisch versierte Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki, Hans Mayer oder Joachim Kaiser waren diese Sitzungen daher auch Sternstunden ihrer Karriere. Man konnte nicht Mitglied dieser Gruppierung werden, sondern wurde per Postkarte vom paternalistischen Organisator Hans Werner Richter (1908–1993) zur Wochenendtagung irgendwo zwischen Bannwaldsee (1947), Niendorf (1952), Saulgau (1963) oder sogar 1966 nach Princeton eingeladen, wo der aufmüpfige Peter Handke für mächtigen Wirbel sorgte.

So staunte Raddatz dann auch mächtig über die „knochenbleiche Wortakrobatik“ Helmut Heißenbüttels, den „rasend druckreif kritisierenden“ Hans Mayer, den stilistisch so eleganten Enzensberger und den brillanten Joachim Kaiser – aber auch über ein geradezu aberwitziges Theorie-Defizit: „Marxistische Ästhetik, materialistische Literaturtheorie, sozialistisches Gedankengut wurden nicht abgewehrt – man kannte das überhaupt nicht. Der Papst hieß Adorno. Den Gegenpast namens Georg Lukacs hielt man vermutlich für den Linksaußen der ungarischen Nationalmannschaft.“

GedenktafelKontroversen, Intrigen, Image-Korrekturen

Nun erscheinen diese ominösen Tagebücher, deren Existenz bisher nicht einmal den engsten Richter-Freunden bekannt war, zum 45. Jahrestag der letzten 47er-Tagung 1967 in der fränkischen Pulvermühle. Richter hatte ja sogar in einem Essay begründet, warum er keine Tagebücher schrieb: An wen sollten die gerichtet sein? An spätere Leser, an sich selbst? Wie kritisch, wie distanziert konnte er sich darin gegenüber befreundeten Autoren und über den Literaturbetrieb äußern? Das waren damals nur einige seiner Bedenken. Dann schrieb er in einer extremen Sinnkrise und angesichts ambivalenter Aussagen seiner engsten Freunde über die Zukunft der Gruppe doch die Tagebücher, die er dem Historiker Arnulf Baring zur Aufbewahrung übergab. Der hatte diese zwei Kladden dann jahrelang im Buchregal stehen lassen und völlig vergessen.

Richter war innerhalb der Gruppe 47 zwar überaus geachtet als netter Herbergsvater und kompetenter Organisator der Tagungen, doch in „Mittendrin“ stellt er auch klar, dass er, der Freund von Grass, Böll, Walter Jens, Enzensberger und Willy Brandt, viel ambitionierter war und sich als Kulturträger und Wegbereiter einer anti-konservativen, linksliberal-demokratischen Gesinnung betrachtete.

„Merkwürdig: In den Artikeln für die Gruppe 47 … bin ich immer ein nur ‚freundlicher‘ Mensch, alle stellen mich nach hinten, als müßten sie mich aus der Frontlinie nehmen … Immer nur Bonhomie, nicht mehr, nur dies! Verkleinern sie mich, um selbst größer zu werden …Verträgt ihr Selbstbewußtsein keine andere Auslegung? Dabei müßten sie nach so vielen Jahren wissen, dass alles von mir kommt: Methode und Konzeption, Spielregel und Name. Geht das allein mit Bonhomie? Was aber war die Konzeption: Versachlichung der deutschen Literatur oder der deutschen Literaturentwicklung. Das umfaßt alles, auch die Sprache.“

Hans Werner Richter gehörte noch zur Generation der „Trümmer“-Literaten; er war als KP-Mitglied wegen trotzkistischer Umtriebe aus der Partei ausgeschlossen worden, hatte sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft als Opfer einer völlig pervertierten Kollektivschuld-Maxime misshandelt gefühlt und dann zusammen mit Alfred Andersch die vom amerikanischen Re-Education-Programm initiierte, enorm erfolgreiche Zeitschrift „Der Ruf“ (Auflage über 70 000 Exemplare!) herausgegeben und Romane über die Nachkriegsepoche veröffentlicht („Die Geschlagenen“, „Linus Fleck“), die sogar von Thomas Mann für preiswürdig befunden wurden (Schickele-Preis für „Sie fielen aus Gottes Hand“).

Da so hochkarätige Autoren wie Böll, Grass, Walser, Johnson, Höllerer, Weiss sowie Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Gabriele Wohmann bei den Gruppentagungen lasen und zusammen mit den bekannten Starkritikern für einen großen Medienauftrieb mit Radio-und TV-Übertragungen sorgten, mutierte die Bezeichnung „Gruppe 47“ bald zum literarischen Markenzeichen und zum Gütesiegel einer „literarischen Nationalmannschaft“.

Aufsehen erregten auch die von der Gruppe beschlossenen politischen Resolutionen. Was Richter jedenfalls sehr gelegen kam, auch wenn sich immer mehr Kritiker, Spötter und Neider zu Wort meldeten, die sich hämisch-polemisch über eine vermeintliche Cliquenwirtschaft mokierten, wie etwa der nie eingeladene Arno Schmidt („Muß man bei der Gruppe 47 auch singen oder braucht man nur nackt vorzulesen?“) oder das angebliche 47er Machtkartell anprangerten wie Axel Cäsar Springers penetrant-reaktionäres Sprachrohr Hans Habe. Dieses Medienecho verzeichnet Richter genauso akribisch wie die Bedenken, Aversionen und unverbindlichen Plattitüden befreundeter Autoren hinsichtlich weiterer Tagungen: Soll man jetzt in dieser kritischen Endphase überhaupt noch weitere 47er Meetings veranstalten? Sind die ritualisierten Lesungen auf dem „elektrischen Stuhl“ vielleicht doch nicht mehr zeitgemäß? Er plante zuletzt noch für 1968 eine Tagung in Prag, doch der Einmarsch der Sowjets sorgte dann für den brutalen Exitus des Prager Frühlings und des geplanten 47er-Treffens.

Böttiger_Die Gruppe 47Einblick in eine im Umbruch befindliche Epoche

Richter wollte immer indirekt wirken, mit einer liberal-demokratischen Streit- und Diskussions-Kultur für ein neues demokratisches Bewusstsein sorgen, aber in seinem Koordinatensystem ergeben sich auch irritierende Widersprüche: Traumatisiert durch seine Erfahrungen während der Nazi-Zeit und die Auseinandersetzungen zwischen SPD- und KPD-Anhängern, fixiert auf einen alptraumhaften Gesinnungsterror der Nazis, befürchtete Richter, dass die 68er Studentenproteste zu einem ähnlichen Exzess führen und freie Diskussionen verhindern würden. Reinhard Lettau, ein progressiver Autor mit großen Sympathien für die 68er und stark engagiert bei den Protesten gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam, stellte für ihn daher ein absolutes, extremes Feindbild dar. Der Vietnamkrieg scheint für Richter überhaupt nicht stattgefunden zu haben: Ihn interessierte viel mehr das Schicksal Israels, der Siebentagekrieg und das Überleben des von vielen Seiten angefeindeten Staates.

Gleichzeitig registriert man bei der Tagebuch-Lektüre seine eigene Intoleranz, eine abstruse Eitelkeit und streckenweise ein groteskes, unsensibles Fehlverhalten, das einen sprachlos macht: Wie kann es sein, dass Richter 1952 den aus Paris zur Lesung in Niendorf eingeladenen jüdischen, von den Nazis verfolgten Lyriker Paul Celan nach dessen „Todesfuge“-Lesung anblaffte mit dem Kommentar, der pathetische Tonfall Celans erinnere ihn sehr an den Sprachduktus von Goebbels?! Über den danach entstandenen Eklat äußert sich Richter nur in einem selbstgefälligen Jargon der Eigentlichkeit, der ebenso peinlich wie unverschämt ist. Trotzdem ist es abwegig, wie es Helmut Böttiger in seiner profunden, spannenden Studie über die Gruppe 47 zeigt, von einer massiven antisemitischen Grundstimmung innerhalb der Gruppe auszugehen.

Hans Werner Richter wollte zwar mit der Gruppe 47 für eine demokratische Diskussionskultur sorgen, doch er gerierte sich häufig wie ein Duodez-Fürst, dem der kleine dichtende Hofstaat Tribut zu zollen hat. Barbara König, 1950 zur Lesung nach Inzigkofen eingeladen, fielen damals schon diverse ritualisierte Gruppenzwänge unangenehm auf, die sie in ihrem Tagebuch beschrieb:

„Was für ein Ritual! Da stehen vorne im Saal zwei Sessel mit einem Tischchen dazwischen, auf dem linken sitzt totenbleich der Autor, auf dem rechten sitzt Richter – wie ihm der Name paßt! – ungerührt, kalt. Er sagt: Fangen wir an, klatscht in die Hände und wirft einen Dompteurblick über die Reihen, der auch den letzten Schwätzer zum Schweigen bringt. Die Meute duckt sich, der Dichter liest. Wie er das fertigbringt, weiß ich nicht, aber wenn er fertig ist, sieht er zu Richter hin, der nickt und läßt die Bestien los, das heißt, er ruft die Kritiker auf … Der Dichter ist froh, daß er nichts sagen darf, denn dazu ist er ohnehin zu erschöpft, er hört sich an, was man von seinen Substantiven und abgehackten Sätzen hält und von seinen Fähigkeiten ganz allgemein und wenn er schließlich aufsteht und zu seinem Platz zurück geht, dann ist er unnatürlich still …“ (In: „Sprache im techn. Zeitalter“, 1988, H. 106, S. 72–78)

Richter hatte schon auf seinen ersten Seite im Tagebuch notiert: „Eine Sache wie die Gruppe 47 ist nicht zu verteidigen. Sie ist. Ihre indirekten Einflüsse sind so weitverzweigt, dass sie in ihrem Umfang erst sehr viel später erkennbar sein werden“.

Die 47er Methode, inklusive „elektrischer Stuhl“, mutet heute seltsam und beinah mittelalterlich-anachronistisch an. Aber diese spannenden „Mittendrin“-Tagebücher des Gruppen-Erfinders bieten einen faszinierenden Einblick in eine im Umbruch befindliche Epoche, in der die Literatur noch einen viel höheren Stellenwert hatte als heutzutage – trotz „Literarisches Quartett“ und ähnlicher TV-Lit-Shows.

Ein überzeugendes Fazit zieht Heinz Ludwig Arnold in seiner Monographie über die Gruppe 47: „So etwas wie die Gruppe 47 neigt dazu, Legenden auszubilden. Auch Hans Werner Richter hat heftig dazu beigetragen: Ein aufgeklärter absoluter Monarch, der für ein paar Tage einen Haufen feierfreudiger und trinkfester, eitler und eifernder, befreundeter und dann wohl auch verfeindeter Literaten regierte. Aber diese besondere Gruppen-Atmosphäre war nach 1967 nicht mehr zu haben“.

Peter Münder

Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966–1972. Hrsg. Von Dominik Geppert, München: CH Beck 2012. 383 Seiten. 24,95 Euro.
Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die dt. Literatur Geschichte schrieb. München: DVA 2012. 480 Seiten. 24,99 Euro.
Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Reinbek 2004: Rowohlt Monographie 50667. 160 Seiten 8,50 Euro.
Ein Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über die Gruppe 47 und Hans Werner Richter finden Sie hier, eine Dokumentation über ein Treffen der Gruppe 47 im Jahr 1963 hier.
Foto Gedenktafel: © rs-foto /Wikimedia Commons 3.0.

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