Geschrieben am 5. Dezember 2012 von für Bücher, Litmag

Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner / Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion

„Ich sehe nicht, warum ich die Vorteile meines seltsamen Loses nicht genießen sollte …“

– zwei Bücher über Thomas Mann, den Amerikaner, gelesen von Joe Paul Kroll.

Thomas Mann hat vermutlich nie ein Baseballspiel besucht. Auch andere Aspekte der amerikanischen Kultur blieben ihm, der Deutschland im Reisegepäck führte und doch als amerikanischer Staatsbürger starb, Zeit seines Lebens ein Rätsel – so sie überhaupt seine Wahrnehmung kreuzten. Darin unterschied er sich kaum von der Mehrheit der deutschen Emigranten, die in den 1930er- und 40er-Jahren vor dem Nationalsozialismus in die USA flohen. Der Dünkel gegenüber dem Land, das Schutz gewährte, war in vielen Fällen auch durch Dankbarkeit nicht aufzuwiegen. Viele der Exilanten hätten wohl schon beim Begriff der „amerikanischen Kultur“ den Einwand erhoben, man habe es allenfalls mit einer „Zivilisation“, also mit einer Schwundstufe der Kultur, zu tun. Und solche Gedanken waren dem Autor der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ und Stichwortgeber wider Willen der sogennanten „konservativen Revolution“ keineswegs fremd.

Doch als Thomas Mann 1938 in die USA einwanderte, hatte er seine republikanische Wende schon vor über anderthalb Jahrzehnten vollzogen. Nicht nur deshalb kann Hans Rudolf Vaget behaupten, Thomas Mann habe sich „überraschend weitgehend auf Amerika eingelassen, jedenfalls in höherem Maße, als man ihm allgemein zubilligt“. Vaget, der am Smith College in Northampton, Massachusetts Germanistik lehrt, hat seine langjährigen Studien zu Manns Exiljahren nun zu einem unverzichtbaren Buch zusammengefügt. „Thomas Mann, der Amerikaner“ weist nach, dass Manns Auseinandersetzung mit, sein Eingehen auf die USA alles andere als oberflächlich waren. Vorherrschend sei dabei jedoch weniger das spezifisch literarische Interesse oder die allgemeine intellektuelle Neugierde gewesen als das politische Kalkül. So geschah diese Hinwendung vor allem „aus der von der Geschichte verhängten Notwendigkeit, sich mit der Macht zu verbinden, die am ehesten in der Lage war, der Herrschaft Hitlers in Deutschland ein Ende zu setzen“.

Dieses Anliegen verfolgte Mann in zahlreichen Vorträgen, die ihn auf langen Tourneen auch in das „Amérique profonde“ führten – von dem er allerdings selten mehr sah, als sich vom Zug- oder Hotelfenster aus seinem Blick darbot. Doch diese Vorträge waren nicht nur deshalb von großer Bedeutung, weil sie Thomas Mann die Gelegenheit zur Erkundung seiner neuen Heimat boten, sondern auch um das Verständnis nach der anderen Richtung zu befördern. Hier bestand großer Nachholbedarf, weil die amerikanische Germanistik, deren Personal selbst überwiegend deutschstämmig war, sich zum Dritten Reich bestenfalls ambivalent verhielt oder mit Verweis auf ihre unpolitische, überzeitliche Aufgabe sich in Schweigen hüllte. Der Aufgabe, den Amerikanern Deutschland zu erklären, gar Stellung zu ihm zu beziehen, kam sie nicht nach. Kein Wunder, dass die Loyalitätsfrage in immer gereizterem Ton gestellt und der Ruf der Germanistik sowie des Deutschunterrichts dauerhaft beschädigt wurde.

Dieselbe offizielle Germanistik empfing denn auch Mann mit deutlicher Kühle. Er, der selbst nie eine Universität besucht hatte, blieb in diesem Milieu auch dann ein Außenseiter, als ihm die Ehrendoktorwürde von Harvard verliehen wurde und Princeton ihn zum „lecturer in the humanities“ ernannte – ein Posten, der ihm eher als Übergangslösung bis zum Umzug nach Kalifornien diente. Erfolgreicher waren zunächst die Versuche, an den „Machtpol“ (Klaus Theweleit) anzudocken. Dazu gehörte der von Mann hochverehrte Präsident Franklin D. Roosevelt, dessen Züge „Joseph, der Ernährer“ tragen sollte und der die Manns ins Weiße Haus einlud. Dazu gehörte aber auch, dass Mann sich bemühte, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, wobei ihm Agnes E. Meyer, die Frau des Verlegers der Washington Post, als wichtige Vermittlerin diente.

„Thomas Mann hat mehr von Amerika gesehen und mehr zu Amerikanern gesprochen als jeder andere deutsche Emigrant.“ Brecht und Adorno schnitten im Vergleich schlecht ab, so Vaget. Doch während Mann als „greatest living man of letters“ hofiert und als solcher auch gehört wurde, nahm er am literarischen Leben der USA nicht so recht teil und eignete sich auch die amerikanische Literaturgeschichte nur selektiv an. Whitman hatte er schon früh kennengelernt und auch zu dessen deutschem Übersetzer Kontakt gepflegt – eine Prägung, die sich noch als bedeutend erweisen sollte. Doch nach einer systematischen geistigen Auseinandersetzung suchen wir vergeblich. Wie gerne läse man von Thomas Mann, wenn nicht gleich (wie von D. H. Lawrence) einen ganzen Band „Studies in Classic American Literature“, doch Essays über Mark Twain, Melville oder Faulkner.

Das Gefühl der kulturellen Überlegenheit, das viele deutsche Emigranten den genuinen Austausch, der auch ihr eigenes Werk befruchtet hätte, gar nicht erst hatte suchen lassen, ist im Fall Mann wohl jedoch von geringerer Bedeutung als der bloße Umstand, dass dieser schon 60-jährig in die USA kam und des Englischen nur begrenzt mächtig war. Dass Mann wie der 20 Jahre jüngere Vladimir Nabokov sein Werk auf Englisch hätte fortführen sollen, wäre auch unter anderen Umständen eine hohe Forderung gewesen, wenn auch Vaget konzediert, dass russische Einwanderer insgesamt ein weit höheres Maß an Assimilationsfreude an den Tag gelegt hätten als ihre deutschen Pendants.

Von der Kunstreligion zum christlichen Humanismus

So könnte man von Vagets Buch, allem Beweismaterial zum Trotz, den Eindruck mitnehmen, es sei Thomas Mann nichts Amerikanisches in Fleisch und Blut übergegangen. Diesen Zweifel auszuräumen versucht der Literaturwissenschaftler und Lyriker Heinrich Detering anhand eines Fallbeispiels, das seinem Buch den Titel gibt: „Thomas Manns amerikanische Religion“ – gemeint ist Manns Hingezogenheit zur unitarischen Kirche. Hierein, so Detering, „kulminiert sein Bemühen, eine Synthese zu finden zwischen den politischen, philosophischen und religiösen Traditionen seiner eigenen Herkunft und denjenigen einer amerikanischen Kultur, der er sich so weit wie möglich anzunähern versuchte und die ihm eine neue Heimat werden sollte.“

Um diese These zu belegen, holt Detering weit aus. Er verfolgt die Auseinandersetzung Thomas Manns mit der Religion, von der Kunstreligion und Schopenhauer’schen Todesmetaphysik der Frühzeit bis zur aufgeklärten Religiosität des Spätwerks, von der Lutherbüste, die Mann sich einst in die Studierstube gestellt hatte, hin zum Lob des katholischen Kosmopolitismus. Die Geschichte des Unitarismus – einer, wie der Begriff andeutet, antitrinitarischen Lehre, die in ihrer jüngeren Geschichte als Unitarian Universalism auch von ihren christlich-theistischen Kernüberzeugungen sich abgewandt hat – wird ebenso rekapituliert wie Manns frühe Lektüre amerikanischer Autoren. Besonders in Whitman und Emerson habe Mann Gedanken kennengelernt, die ein späteres Verständnis des Unitarismus vorbereitet hätten.

Die Politik liegt hier nicht fern. Fällt Manns Interesse am Unitarismus mit seiner verstärkten publizistischen und rednerischen Tätigkeit gegen Nazideutschland zusammen, so ist dieser Konnex schon in der Whitman-Lektüre angelegt, die bereits die republikanische Wende um 1922 begleitete. Mit der Rezeption Whitmans sei

„… der Boden bereitet für eine Aufnahme sehr spezifisch amerikanischer Formen einer aufgeklärt-humanistischen und entschieden robusten Religion, die erst anderthalb Jahrzehnte später in sein Blickfeld geraten, ja die sein Leben und Denken maßgeblich mitbestimmen werden. […] Bereits in den ersten Reden, mit denen der entschlossen zum Amerikaner werdende Exilant sich an die amerikanische Öffentlichkeit wendet, artikulieren sich die Grundzüge jener amerikanischen Religion als Trostmittel und zugleich als Kampfinstrumente in der Stärkung einer Lebensfreundlichkeit, die in der inneren wie in der äußeren Abwehr des Faschismus manchmal gar nicht robust genug sein kann.“

Thomas Manns Beziehung zum Unitarismus begann um 1940, bald nach dem Umzug der Familie nach Los Angeles. Zwar scheint er nie formal in die Kirche eingetreten zu sein, hat sich aber wohl als zugehörig betrachtet, was die Gemeinde der dortigen First Unitarian Church auch erwiderte. Besonders wichtig war ihm aber der persönliche Gedankenaustausch, die Freundschaft mit unitarischen Geistlichen, mit Ernest Caldecott und besonders seinem Nachfolger, Stephen Fritchman.

Die First Unitarian Church in Los Angeles

Aus diesem Austausch ging Manns Definition der religiousness hervor, die er in einer Rede vor der Library of Congress am 17. November 1942 vortrug: „[I]t is attentiveness and obedience; attentiveness to the inner changes of the world, the mutation in the aspects of truth and right; obedience which loses no time in adjusting life and reality to these changes, this mutation, and thus in doing justice to the spirit.“ Auch Gott wird in diesem Sinne definiert als Gegenstand der Sorge, diesem Anspruch gerecht zu werden. Dazu gehöre, einer „Vergöttlichung des Menschlichen“ entgegenzuwirken. Diese Formulierungen finden sich später mehrfach variiert.

Die Beschäftigung mit dem Unitarismus überdauerte auch den Krieg und die Enttäuschungen, die Mann nach dem Tod Roosevelts im rauer werdenden politischen Klima erdulden musste. Seine ausführlichste Stellungnahme gab er in Form einer Rede von Fritchmans Kanzel im März 1951. Hier betont Mann – und auf diese Feststellung legt Detering großen Wert –, dass er sich dem Unitarismus von einem entschieden christlichen Standpunkt aus genähert habe. Die Rede ist ein Bekenntnis zur Praxis eines christlichen Humanismus, hat aber zugleich einen politischen Hintergrund: Pastor Fritchman war, wie auch Mann, ins Visier der Kommunistenjäger geraten. Mann pries nun die „American evangelic freedom“, wie er einst den deutschen Protest Luthers gepriesen hatte.

Angst und Befremdung ob der politischen Richtung, die die USA unter Harry S. Truman eingeschlagen hatte, die Gesinnungsschnüffelei des House Committee on Un-American Activities und deren Intensivierung unter der Leitung Joseph McCarthys veranlassten Thomas Mann 1952 zur Rückkehr nach Europa. In den Jahren zuvor hatte er sich zunehmenden persönlichen Angriffen ausgesetzt gesehen, alle auf den Vorwurf hinauslaufend, schlimmstenfalls ein begeisterter Agent Stalins, mindestens aber ein nützlicher Idiot des Kommunismus zu sein. Trotzdem er Amerika, wie Vaget schreibt, „angeschlagen, maßlos enttäuscht und in seinem Alterspessimismus bestärkt“ verließ, blieb Mann der unitarischen Kirche und Pastor Fritchman verbunden. Es scheint, als hätte er in ihnen das Idealbild amerikanischer Möglichkeiten gesehen.

Der Unitarismus verkörperte für Thomas Mann das weltoffene, für die Sache der Humanität streitende, aber nie selbstgerechte Amerika, mit dem er sich gerne identifiziert hatte. Denn neben den weltanschaulichen und moralischen Faktoren sieht Detering Manns Hinwendung zu den Unitariern begründet in „einer Haltung gegenüber dem liberalen Amerika, die von Dankbarkeit und dem Wunsch nach größtmöglicher Integration bestimmt war “. War der Kontext dieser Annäherung auch Manns „Kampf für eine mit den Idealen der Aufklärung und der Demokratie untrennbar verbundene Humanität, die er als religiös begründet, ja als selbst religiös verstand“, muss ihn etwas am Unitarismus tiefer berührt haben, als andere Ausdrucksformen des Religiösen es je vermocht hatten. Schon die auf seine Veranlassung hin geschehene Taufe der Enkel Frido und Angelica in der Kirche bezeichnete er als „die angenehmste kirchliche Erfahrung, die ich gemacht habe“; insgesamt war die unitarische „die erste Kirche seines Lebens, deren Rituale und Repräsentanten seine empfindliche Wahrnehmung in keiner Weise als ehrwürdig veraltet, überständig, peinlich empfand“.

Hier wird natürlich, von Seiten Manns wie Deterings, viel in dehnbaren politisch-humanen Begriffen gesprochen. Dies ist jedoch in Manns Texten der Zeit, speziell in seinen Äußerungen zum Wesen des Religiösen, angelegt, das Mann ja in Gestalt des Unitarismus gerade deshalb zusagt, weil es sich nicht mit scholastischen Spitzfindigkeiten aufhält oder im nur noch Rituellen erstarrt ist. Mann nähert sich hiermit einem als sehr amerikanisch empfundenen undogmatischen Verständnis von Religiosität – denkbar weit von Leo Naphta, dem Großinquisitor aus dem „Zauberberg“ entfernt. Damit beleuchtet Deterings Buch nicht nur eine wesentliche, von Vaget nur gestreifte Dimension des Amerikaners Thomas Mann, sondern leistet auch einen wirklich neuen Beitrag zu Manns Verständnis des Religiösen.

An ihre Grenzen stößt Deterings Herangehensweise nur dort, wo eine theologische Durchdringung des Spätwerks eher vor dem biografischen Hintergrund behauptet als durch genaue Lektüre belegt wird – wenn der religiöse Gehalt nicht schon der Thematik innewohnt, etwa in den Josephsromanen oder in „Der Erwählte“. Dieses Problem geht aber wiederum auf die bereits angesprochene Tatsache zurück, dass der späte Mann das Religiöse eher in ethisch-humanistischen Begriffen dachte und spezifische Theologeme ihm von untergeordneter Bedeutung waren. Dennoch kann die fehlende Trennschärfe zwischen im engeren Sinne religiösen Begriffen und Gedanken einerseits und solchen, die auch zum säkularen Bestand gehören, andererseits dazu führen, die religiöse Dimension in Manns Werk insgesamt auf Kosten anderer Faktoren überzubewerten oder ihr diese – etwa Manns politisches Denken im Wandel – pauschal unterzuordnen. Dennoch steht außer Frage, dass Detering unser Verständnis der geistigen Entwicklung Thomas Manns wesentlich bereichert hat.

Gewinn der Außenperspektive

Thomas Mann galt selbst einigen Mitemigranten – und wie viel mehr erst in Deutschland – als Nestbeschmutzer, weil er sich eine Außen- und in letzter Konsequenz Feindesperspektive zu eigen machte. Deutschland sah sich als Opfer – als Opfer Hitlers wie äußerer Mächte. Mit Mann war diese Ausflucht nicht zu haben. Dass die Frage „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ im Deutschland der frühen Nachkriegszeit zumeist verneinend beantwortet wurde – gerade vom Bildungsbürgertum –, überrascht auch deshalb leider nicht. Eher schon, wie lange sich diese Abwehrhaltung noch hinziehen sollte. Noch Joachim Fest wollte Mann, wohl aus Sorge um seine eigene Position als bürgerlicher Geschichtsdeuter, jedes Verständnis von Politik und Geschichte absprechen.

Dieses auch heute noch zu findende Bild eines politisch naiven Thomas Mann, der zu deutscher Schuld und Verantwortung nichts zu sagen habe, will Hans Rudolf Vaget widerlegen. Denn diese Abwehrhaltung sei schon von Anfang an zu Schaden Deutschlands gegangen. Es sei sogar anzunehmen,

„… dass der politisch-moralische Reifeprozess, den man der Bonner und der Berliner Republik heute gern und großzügig bescheinigt, vermutlich weniger stotternd und zögerlich vorangekommen wäre, wenn man Thomas Mann, den Amerikaner, das heißt seine im amerikanischen Exil gewonnenen Einsichten, von Anfang an in das Nachdenken über die deutsche Katastrophe einbezogen hätte“.

Die selbst ernannte „innere Emigration“ habe hingegen versucht, Mann als Amerikaner zu zeichnen, um sein Deutschtum in Frage zu stellen, seine Kommentare zur deutschen Katastrophe unglaubwürdig zu machen. Daran, so der Schluss aus Vagets Buch, ist nur so viel richtig, dass „Thomas Mann, der Amerikaner“ eine hochgradig politische Figur war. In Amerika kreisten seine Gedanken um Europa und sein Schicksal, ohne dass sie in einer europäischen Wahrnehmung steckengeblieben wären. Gerade in dieser „außerdeutschen Perspektive“ auf Deutschland habe der Gewinn gelegen, den man in Deutschland ausschlug. Diese Außenperspektive in ihrer Vielseitigkeit wie in ihren Grenzen erforscht, geschildert und mit Leben gefüllt zu haben, ist das große Verdienst der Bücher von Vaget und Detering.

Joe Paul Kroll

Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2011. 584 Seiten. 24,95 Euro.
Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2012. 343 Seiten.19,99 Euro.
Foto oben: Thomas Mann an seinem Schreibtisch in Pacific Palisades, Kalifornien.

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