Sterben und leben lassen
– Baron Samedi heißt einer der wichtigsten „Loas“ der Haitianischen Voodoo-Religion, der Herrscher über das Totenreich. Hans Christoph Buch gilt als Kenner des immer wieder von Unglücken heimgesuchten karibischen Landes. Sein neuer Roman, „Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod“ ist zwar kein Haiti-Roman, oder besser: kein Roman, der sich mit Haiti als Schauplatz begnügte. Trotzdem ist der Titel alles andere als irreführend. Baron Samedi untersteht der Grenzbereich zwischen Leben und Tod, er besiegelt die endgültige Aufnahme ins Totenreich und kann für Auferstehungen sorgen. Joe Paul Kroll weiß mehr darüber.
Als Autor kann Hans Christoph Buch derartige Macht immerhin in der Literatur ausüben. Und als Autor umspielt er eine weitere Grenze, jene nämlich zwischen Autobiographie und Fiktion. Protagonist des Romans ist ein in die Jahre gekommener Schriftsteller und Weltenbummler namens H. C. Buch, dem wir zuerst begegnen, als er mit seiner ehemaligen, aber doch wieder mit ihm versöhnten Ehefrau „die Stätten seiner Jugend“, in diesem Fall eine Klosterschule im Süden Frankreichs, besucht. Seiner Jugend nachzuspüren ist stets Suche nach sich selbst, und H. C. Buchs Suche nach dem unbekannten – fremd gewordenen? – Ich durchzieht den Roman.
Gegliedert ist dieser Roman in drei Bücher, diese wiederum in je drei wiederkehrend benannte Teile. Schauplatz ist jeweils erst Frankreich, wo die Stätten der Jugend mit der Ex-Frau Judith besucht werden; dann Haiti, wo der Großvater des „wirklichen“ Hans Christoph Buch als Apotheker lebte, und das Buch nach dem katastrophalen Erdbeben von 2010 besucht; während der jeweils dritte Teil schwieriger zu bestimmen ist, aber vielleicht als Variationen zu literarischen Themen zu umreißen wäre.
Wo etwas zu dreien daherkommt, beginnt man sich Gedanken zu machen, ob trinitarische Theologie, Mystik oder Dialektik dahinterstecken. Tatsächlich liegen religiöse Fragen nie fern. Ob im Kloster oder in Haiti, oft begegnen wir H. C. Buch in religionsgesättigter Umgebung. Evangelisch erzogen und erklärter Atheist, ist dieser Wanderer und Sucher doch dem Katholizismus zugeneigt, kann aber auf das vom Erdbeben in Haiti gestellte Theodizeeproblem nur mit dem Hohn auf einen Gott reagieren, der solches zuließ.
Mit diesem religiösen Aspekt ist jedoch die Drei-mal-Drei-Gliederung des Romans nicht erklärt. Die Antwort liegt vielleicht in Haiti, einem Ort, der schon immer von Geistern, „von Zombies, von lebenden Toten bevölkert gewesen war“. Es geht also um das Hineinragen der Vergangenheit in die Gegenwart, und wieder um den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, denen der Un-Tod als Drittes hinzugestellt wird, als Bereich, in denen Gewissheiten von Ego und Alter Ego, von Wahrheit und Dichtung, nichts gelten.

„Das verschachtelte Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gab, sah einem Vévé ähnlich, einem jener an Freimaurersymbole erinnernden Muster, die der Gehilfe des Priesters vor Beginn jeder Voodoo-Zeremonie auf den Boden des Tempels malt.“
Der Klappentext gibt mit dem Rimbaud-Zitat „Ich ist ein anderer“ einen Wegweiser zu Deutung und Methode. Aus der Perspektive der Schriftstellerin Sybille Bedford werden die 1933 an der Côte d’Azur versammelten Schriftsteller des deutschen Exils geschildert: die Familie Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und andere. In Sanary-sur-Mer trifft sie auch auf den amerikanischen Okkultisten und Voodoo-Adepten William Seabrook, in dessen Reisebericht „The Magic Island“ tatsächlich Buchs Großvater erwähnt wird. Seabrook bekennt, sich „immer auf der Flucht vor mir selbst“ zu befinden. Diese Suche nach und Flucht vor sich selbst ist wiederum ein Anliegen der mit ihrer deutsch-englischen Identität hadernden Sybille Bedford.
Später, in den 60er Jahren, besuchen der junge Buch und seine Frau selbst Sanary. Dort liegen sie am Strand, „bis die Realität sie einholte – die deutsche Geschichte, besser gesagt“, in Gestalt alter Kriegsbefestigungen. Nach den Kapiteln um die Exilschriftsteller wird man diesen Einbruch der Geschichte kaum als Überraschung bezeichnen können, doch nun geht es auch um Buchs eigene historische Verstrickungen, etwa als Jungkommunist. Später taucht zu allem Überfluss ein kolumbianischer Taxifahrer auf: „Me llamo Adolfo – como Adolfo Hitler.“ Er darf nicht fehlen. Dann wiederum zitiert ein mysteriöser Mohrenschildt, der in allerlei Verschwörungen und Verschwörungstheorien verwickelt ist, den Ausspruch Henry Fords „history is bunk“, ohne dessen Urheber richtig zu benennen, aber es eben darin an sich beweisend. Auch der Geschichte ist nicht zu trauen, schon gar nicht bei solchen Erzählern.
Anstelle der aufgeklärten Exilanten im klaren Licht der Côte d’Azur treten nun dunklere Gestalten auf den Plan; darunter Meister der Neuerschaffung ihrer selbst wie Dracula und der Dandy-Faschist Curzio Malaparte. Die Klarheit von Buchs Prosa kann nicht verhindern, dass sich in diesen Passagen beim Leser Verwirrung einstellt, vielleicht eben auch, weil Buchs direkter, ungekünstelter Stil weniger die notwendige Distanz zur Phantastik des Geschilderten herstellt, als eine eher unangenehme Dissonanz zu erzeugen. Damit ist ein umfassenderes Problem von „Baron Samstag“ gestreift, dass nämlich die einzelnen Teile nicht alle gleich gut in die überaus geschickte Konstruktion des Ganzen passen. Dennoch sorgt diese Konstruktion dafür, dass der Roman über weite Strecken fesselt, mit seinen Perspektivwechseln wie mit den mitunter lustig gewählten und gesetzten Querverweisen, die aufzufinden dem geneigten Leser überlassen sei.
Die Suche nach einer dritten Sphäre jenseits von Leben und Tod geht zuletzt in die Stimmung des ganzen Romans über, der auch als eine Art Abschied lesbar ist. Die retrospektive Dimension kam bereits zur Sprache, und „Baron Samstag“ enthält zahlreiche Verweise nicht nur auf die sprichwörtlichen „letzten Dinge“, sondern auch auf konkrete Letztmaligkeiten. Beispielsweise soll es H. C. Buchs letzter Besuch in Haiti werden, und der Besuch an den „Stätten seiner Jugend“ lässt sich als Versuch verstehen, mit seinem Leben insgesamt ins Reine zu kommen, quasi am Ort des Anfangs einen Schlussstein zu setzen. Dass dieser Schluss dennoch offen bleibt, zeigt sich schließlich am Spiel, nicht mit dem „Tod des Autors“, sondern mit dem Tod des „Autors“.
Nachbemerkung: unzuverlässige Erzähler
Da in „Baron Samstag“ auf H. C. bzw. Hans Christoph Buchs James-Bond-Studie (siehe auch hier) verwiesen wird, soll der Hinweis nicht fehlen, dass die Figur des Baron Samedi auch zum Bond-Kosmos in Bezug steht: Ein Gegner dieses Namens wird von Bond in „Live and Let Die“[1] – wie passend! – nur scheinbar erlegt. Bond ist selbst ein Meister fingierter Tode („You Only Live Twice“) und symbolischer Wiedergeburten (Feuer- und Wassertaufe am Schluss von „Skyfall“). In den häufigen Ortswechseln in Buchs Roman könnte man außerdem das erkennen, was als „Fleming Sweep“ bekannt geworden ist: Der Protagonist muss im Laufe eines Abenteuers möglichst viele Stempel im Reisepass sammeln. In der Frage von James Bonds Lieblingsseife liegt Buch allerdings daneben: Floris, nicht Pears, ist die von 007 bevorzugte Marke (siehe z. B. in Ian Flemings „Moonraker“).
Wir haben es hier mit unzuverlässigen Erzählern zu tun, mit Figuren, denen nicht zu trauen ist. Ihnen schiebt Buch in der indirekten Rede Fehler unter: Mit „Im Anfang war das Wort“ beginnt nicht die Schöpfungsgeschichte, sondern das Johannesevangelium; und mit der „portugiesische[n] Nonne Fatima“ sind gewiss die Marienerscheinungen im Ort Fátima (1917) gemeint. Ein letzter merkwürdiger Irrtum oder eher ein Anachronismus: Der in Sanary ebenfalls anwesende Aldous Huxley spricht 1933 von „fliegenden Untertassen“, obwohl der Begriff nachweislich erst 1947 aufkam. Verstehen wir das als allfällige Mahnung, stets des unsicheren Standes der Wirklichkeit in der Dichtung gewahr zu bleiben – umso mehr, als Heinrich Mann wenig später ein zufälliges Treffen mit Hermann Göring in Nizza schildert, der jenem des Führers Verehrung für den Film „Der blaue Engel“ mitteilen lässt. Hitlers Faible für den Film mit Marlene Dietrich ist übrigens nicht belegt, aber auch kein ganz unbekanntes Gerücht.
Joe Paul Kroll
[1] Die Rede ist hier vom 1973 erschienenen Film. In Ian Flemings gleichnamigem Roman ist Baron Samedi nur in effigie präsent.
Hans Christoph Buch: Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod
. Roman. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2013. 256 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage des Autors. Illustration: wikimedia commons/chris.