Geschrieben am 15. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

Hanns Zischler: Berlin ist zu groß für Berlin

Hanns Zischler_Berlin ist zu groß für BerlinErinnerungen & Vorschläge

– Hanns Zischlers eigenwilliges Berlin-Kaleidoskop. Von Wolfram Schütte.

Hanns Zischler (* 1947) verdient seinen Lebensunterhalt als Filmschauspieler & Hörbuchvorleser. So hat er sich einen Namen gemacht. Literarisch Interessierte aber kennen ihn auch als Essayisten, z. B. als Autor der sehr schönen Kompilation „Kafka geht ins Kino“.

Hanns Zischler führt zusammen mit Joachim Kalka die kleine Gruppe literarisch gebildeter & umfassend interessierter deutschsprachiger Essayisten an, die einen immer wieder mit ihren unvorhersehbar auftauchenden schriftstellerischen Versuchen überraschen. Jetzt hat Hanns Zischler, der (als Fußgänger & Flaneur) in Berlin lebt, eine Sammlung seiner Überlegungen zur Hauptstadt unter dem Titel „Berlin ist zu groß für Berlin“ vorgelegt. Der Titel spielt darauf an, dass die deutsche Metropole im Vergleich zu ihrer Einwohnerzahl erstaunlich ausgedehnt ist: „Was Berlin an Dichte fehlt“, konstatiert Zischler, „glaubt es durch Fläche wettmachen zu können.“ Berlin sei eine polyzentristische Hauptstadt nicht nur wegen ihrer langjährigen politischen Teilung, sondern von jeher. Und als das Schloss noch stand & vom Kaiser bewohnt wurde?

So solitär sich Berlin seinem sympathetischen Kritiker darbietet, so eigenwillig ist das Buch, das sich – was das Schöne an ihm ausmacht – unterschiedlicher Formen bedient, um seinen Gegenstand vielfach, will sagen: kaleidoskopisch zu präsentieren: Mit Texten & Bildillustrationen, mit Zitaten, Gedichten & Nacherzählungen, mit höchst eigenem & fremdem historischem & gegenwärtigem Stoff & Material – & was bei Zischlers Berlin-Überlegungen besonders herausfordernd ist: mit utopischen Konstruktionen & Vorstellungen.

Um sogleich von Zischlers literarischen Eingriffen in das Berlin der Gegenwart zu sprechen: Er schlägt vor, das für die Olympiade 1936 gebaute Stadion nach dem schwarzen amerikanischen Olympiasieger Jesse Owens zu nennen, den aus Schuttraum aufgeschichteten „Teufelsberg“ mit einem Aufzug transparent für die übereinanderliegenden historischen Müllschichten zu machen & (als ein neues Weltwunder) auf dem ehemaligen Flugfeld Tempelhof den sich in den Himmel schraubenden Spitalturm des russischen Architekten Tatlin zu errichten – um, wie er mit ironischer Bescheidenheit meint, mit dem Funk- & dem Fernsehturm eine (dritte) sichtbare Beziehung „erhabener“ & „erhebender“ Wahrzeichen für das „ungeplante, führungs- & konzeptionslose Architekturmuseum“ namens Berlin herzustellen.

Hanns Zischler PortraitStraßenbegeher

Zischlers Berlin-Beschäftigungen reichen von geologischen Überlegungen bis zu einer auch fotografisch dokumentierten heutigen Busfahrt vom Charlottenburger Westend bis nach Stralau (Friedrichshain). Dazwischen begeht & untersucht er nicht nur Gärten & Parks, sondern auch das „ewige Provisorium Alexanderplatz“ (wie ihm überhaupt die Berliner Plätze nicht zum Verweilen vorgesehen, sondern als „Straßenzusammenstösse“ gedacht scheinen). Ebenso lässt er sich auf die (Vor-) Geschichte des Protestantischen Doms ein & berichtet von einem amtlichen „Straßenbegeher“, dessen Existenz ebenso erstaunlich wie sinnvoll ist & von der ich bislang noch nie etwas gehört habe. Ob es solche Aufseher oder Polizisten für den Straßen- & Fußgängerwegezustand auch in anderen unserer Städte gibt? Oder ist das eine Berliner Spezialität?

Zwei der Artikel beschäftigen sich mit historischen Personen des 20. Jahrhunderts: der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar, die in einem Brief an ihre emigrierte Schwester vor ihrer Deportation & Ermordung in Auschwitz beschreibt, wie sie noch einmal ihr Geburtshaus 1940 besichtigt hat, das längst enteignet war & in dem damals die Polizei residierte. Dem gewitzt sich den Nazis entzogen habenden Oskar Huth, der ein abenteuerlich-klandestines Leben in Berlin geführt & mit gefälschten Lebensmittelkarten nicht nur sich, sondern auch zahlreichen andern Untergetauchten die Existenz in Kriegszeiten gesichert hat, errichtet Zischler ein kleines, bewegendes Memorial. Aus der Verteilung Berliner Kinderspiele in den einzelnen Stadtteilen vermag Zischler jedoch nichts zu entnehmen – anders als aus den merkwürdigen Stadtplänen der Katharina Meldner.

Seit den Flanerien Franz Hessels & Siegfried Kracauers, die jedoch „literarischer“ waren, hat keiner mehr sich so einlässlich mit den Eigenarten & den städtebaulichen Besonderheiten der Hauptstadt beschäftigt wie Hanns Zischler – & ein so schönes Buch daraus gemacht.

Wolfram Schütte

Hanns Zischler: Berlin ist zu groß für Berlin. Berlin: Galiani Verlag 2013. 173 Seiten. Zahlreiche Abbildungen. 22,99 Euro. Foto: Jennifer Fey.

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