Geschrieben am 1. Februar 2016 von für Bücher, Litmag

HAM.LIT-Special: Anke Stelling: Bodentiefe Fenster

1420_LSchau dich nicht um, Kassandra geht um

– In diesem Roman wird selten gelacht. Mütter nehmen sich nicht frei und gehen abends einfach mal aus, ins Kino oder ins Konzert, mit Nichtmüttern oder Mitmüttern, Arbeitskollegen, Sportkollegen, Nachbarn… Stattdessen sorgen sie sich um die eigenen Kinder, sind genervt von den Kindern der andern. Auch die Freunde geben Anlass zur Sorge, und mehr noch die Freundinnen, jede auf ihre Art dabei, direkt in den Abgrund zu schlittern. Sandra, die Erzählerin in „Bodentiefe Fenster“, weiß das. Sie spricht unablässig davon. Der Kindername „Kassandra“, den sie sich beim Spielen mit einer Freundin einst gab, ist ihr stehengeblieben, und entweder sie sieht wirklich Tod und Unglück und Untergang all ihrer Bekannten voraus, oder aber sie steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs (oder beides).

Sandra ist Anfang 40, hat zwei Kinder im Schul- bzw. Kita-Alter, einen Freiberufler-Job, und einen recht coolen Mann, Hendrik, der dazu neigt, vieles gelassener zu nehmen als sie. Kommt vielleicht daher, dass er gerne Zombie-Filme schaut. Oder weil er als Kind nicht im selbstgegründeten Kinderladen war?

Foto Nane Diehl

Foto: Nane Diehl

Die kleine Familie wohnt im obersten Stockwerk eines Gemeinschaftshaus im Prenzlauer Berg, in dem der Traum von kommunitären Wohnen Wirklichkeit werden soll. Ideale, Ideale, eingetrichtert in der frohen Zeit im Morgenkreis! Selten hat eine literarische Figur eine größere Sehnsucht an den Tag gelegt, am ersten Glauben ihres fünfjährigen Ichs festzuhalten. Wir sind alle gleich! Jeder ist wertvoll! Gemeinsam sind wir stark! Was damals wahr schien, erscheint Sandra nun als Lüge, denn ihre Umwelt erzählt in tausendfachen Variationen vom Gegenteil. Und also strömt aus ihrem Erzählermund nun ein Gegenmantra: Nichts hat sich geändert, alles bleibt gleich, Elternsein ist Traurigkeit, Kinder sind Monster, unsere Mütter haben versagt, wir werden wieder versagen, und wahrscheinlich ist meine Schwester gerade dabei, ihre Kinder mit Münchhausen-by-proxy umzubringen.

Mit solchen Gedanken und Ahnungen schleppt sich die Protagonistin durch den Tag. Kein Wunder kommt sie morgens nicht aus dem Bett.

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Ajax raubt Kassandra. Solomon Joseph Solomon 1886

Und irgendwo spukt in dieser Geschichte auch tatsächlich Kassandra aus der Antike herum, von Apollon mit der Gabe der Weissagung bedacht, und später mit dem Fluch belegt, dass keiner ihren Prophezeiungen Glauben schenken wird. So ging einst Troja unter, versank eine Stadt in Blut und Asche, trugen die Griechen den Sieg davon, bevor sie selbst, auf ihre eigene Art, untergingen. Und Kassandra, die das alles wusste, wurde nicht gehört, weder von den Mächtigen ihrer Stadt noch von dem Mann, dem sie später als Kriegsbeute zufallen wird.

Ich seh was, was du nicht siehst: Verrat, Verrat und Tod.

Sandra dagegen geht nicht davon aus, dass jemand sie hören will, hält mit ihren Ahnungen weitgehend hinterm Berg, und nur wir, die Leser, werden damit zugeschüttet. Diese Einsichten ins wahre Leben gehen alle etwas an!, insinuiert dabei der durchaus unterhaltsame Erzählgestus, doch wer nicht gerade als erschöpfte Mutter (oder Vater) im mittleren Alter eine Midlife-Crisis vor sich herschiebt, wird sich eventuell nicht besonders angesprochen fühlen. Auch das geht vorbei, möchte man irgendwann der Dame zurufen, aber erst, wenn du aufhörst, den Mutmach-Slogans von Volker Ludwig die Schuld zu geben!

Nun ist das Ganze ja auch irgendwie Satire, und gut gemachte zudem, wo man doch so bereitwillig mitgeht, und mitleidet, und sich ärgert über diese Sandra. Kassandra. Gefangen im schwarzen Loch des verlorenen Glaubens – an das Grips-Theater, wenn ich das richtig lese – schlittert sie in den von Beginn weg angekündigten Burn-Out, fährt dann zur Kur an die Nordsee, wo wir sie zurücklassen dürfen. Die Kinder sind versorgt, Hendrik sei Dank. Zeit und Musse also für diese Antiheldin, sich von den Müttern zu lösen. Man wünscht ihr Glück und zweifelt ein wenig: Erholung sucht sie nämlich ausgerechnet im Reizklima eines Mütter-Kurheims.

Brigitte Helbling

Die Autorin liest am 4.Februar auf der HAM.LIT 2016, der langen Nacht junger Literatur und Musik in Hamburg.

Anke Stelling, Bodentiefe Fenster, Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 256 Seiten, Euro 19,00.

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