Geschrieben am 1. Februar 2012 von für Bücher, Litmag

Ham.Lit-Spezial (5): Jan Böttcher: Das Lied vom Tun und Lassen

Morgen Abend (2.2.) findet in Hamburg das Literaturfestival „Ham.Lit“ statt , die dritte „Lange Nacht junger deutschsprachiger Literatur und Musik“– präsentiert u. a. von CULTurMAG. 15 Autorinnen und Autoren lesen parallel auf drei Bühnen, dazu gibt es zwei Konzerte. Mit dabei auch Jan Böttcher; Frank Schorneck stellt Ihnen den neuen Roman vor, dazu sehen Sie ein Video-Interview mit dem Autor, exklusiv präsentiert von unserem neuen Partner, der „Interview Lounge„!

Das Lied vom Neustart

Jan Böttcher ist ein echtes Multitalent: Mit seiner Band „Herr Nilsson“ und zuletzt solo hat er bereits fünf CDs veröffentlicht, er tourt quer durch die Republik. Als Autor hat er 2007 in Klagenfurt den Ernst-Willner-Preis erhalten und legt mit „Das Lied vom Tun und Lassen“ seinen mittlerweile vierten Roman vor. Ein schreibender Musiker oder ein musizierender Autor – beim Grenzgänger Jan Böttcher befruchten sich beide Welten auf ideale Weise.

Erwarten kann man von den Büchern des Autors, seiner Sprache und seiner Komposition, ein hohes Maß an Musikalität – und sein neues trägt diese bereits im Titel. Das „Lied vom Tun und Lassen“ führt an eine Schule in der norddeutschen Provinz, lässt die Lebensentwürfe und -sehnsüchte dreier unterschiedlicher Generationen aufeinandertreffen.

Da ist zunächst Immanuel Mauss, ein kurz vor der Pensionierung stehender Englisch- und Musiklehrer. Inspiriert von Alt-Achtundsechziger-Idealen und dem Club der toten Dichter will er seinen Schülern Freund und Stütze sein. Er frickelt mit ihnen im Tonstudio, lässt sie Klingeltöne entwerfen und lässt sie anhand fiktiver Bands Aspekte der Musikindustrie durchspielen – von der Pressearbeit bis zur Tourplanung. Für die Kollegen allerdings gilt der Mann, der Zwiegespräche mit seiner verstorbenen Frau führt und im Schulkeller an Musikinstrumenten baut, als komischer Sonderling; auch den Eltern ist sein enger Umgang mit den Schülern suspekt.

Der 35-jährige Johannes Engler wiederum ist als Schulgutachter in die Provinz berufen worden, um die Hintergründe für den Selbstmord einer Schülerin zu untersuchen und eventuelle Missstände aufzudecken. Eigentlich ist er Doktorand der Musikwissenschaften, weshalb er sich besonders von Mauss’ Musikunterricht angezogen fühlt. Vielleicht trägt der Tod seines Vaters und die Trennung von seiner Frau dazu bei – jedenfalls beginnt er ein Verhältnis mit Clarissa Winterhof, der Lieblingsschülerin von Mauss und engen Freundin der Toten. Clarissa schließlich kommt im letzten Drittel des Buches zu Wort.

Zwei Seiten der Münze Gedächtnis

Jede der drei Figuren erzählt ihre eigene Sicht der Dinge, wobei gerade der Selbstmord, der ihre Schicksale letztlich zusammengeführt hat, bei allen dreien weitestgehend ausgeklammert wird. Zeitlich knüpfen die Schilderungen aneinander an, Überschneidungen gibt es nur in Rückblicken. Clarissas Part hat die Form eines Blogs. Sie ist mit ihrer Band auf Tour durch Frankreich und Spanien – per Skype ist sie mit „Manager“ Manuel (also Mauss) verbunden, und auch Johannes sucht den Kontakt per SMS und Mail. Und in ihre Beobachtungen mischen sich Erinnerungen und Visionen von der verstorbenen Meret.

Jan Böttcher mischt diese Stimmen wie in einem Tonstudio perfekt ab, variiert gekonnt seine Motive und lässt die Figuren in den Schilderungen der jeweils anderen stets unter neuen Gesichtspunkten erscheinen. So erhält zum Beispiel Mauss, der in seiner Eigensicht charismatisch seine Jünger um sich schart, aus dem Blickwinkel Englers Ecken und Kanten, erscheint nahezu kauzig und unbeholfen. Und natürlich sieht Clarissa die „Beziehung“ zum Schulinspektor ganz anders als er. Solche Romane aus verschiedenen Blickwinkeln sind eine Spezialität von Julian Barnes, und der Engländer hat diese Erzählweise in Romanen wie „Darüber reden“ oder „Liebe usw.“ zur Perfektion gebracht. An diese reicht „Das Lied vom Tun und Lassen“ nicht heran, doch das dürfte auch nicht die Intention des Autors gewesen sein. Die „Liebesgeschichte“ zwischen Johannes und Clarissa steht nicht im Mittelpunkt und eine Dreiecksgeschichte im Barnes’schen Sinne bietet der Roman auch nicht. Vielmehr zeigt der Autor an seinen Figuren unterschiedliche Formen von Trauer- und Trennungsbewältigung auf.

Natürlich geht es bei Clarissa ums Erwachsenwerden, doch auch die beiden männlichen Erzähler stehen vor neuen Lebensabschnitten. Der Roman handelt „…von Listen und Leerstellen, von Tun und Lassen, von Festhalten und Vergessen, von Annehmen und Ablegen, von den zwei Seiten der Münze Gedächtnis“. Mit diesen Worten beschreibt Johannes Engler das von ihm geschriebene Lied „Depot“, das er Clarissa und seinem Sohn widmet, zu dem ihm die Frau den Zugang verwehrt. Der Liedtext ist im Buch abgedruckt, auch die der Songs, die Clarissas Band „Animal Museums“ zugeschrieben werden. Der Autor holt diese Lieder aus der Fiktion in die Realität: Auf seiner Homepage liefert er den hörenswerten Soundtrack zum Buch.

Frank Schorneck

Jan Böttcher: Das Lied vom Tun und Lassen. Berlin: Rowohlt Verlag 2011. 316 Seiten. 19,95 Euro.
Das gesamte Video-Interview mit Jan Böttcher finden Sie auf den Seiten der Interview Lounge, eine neuen Seite, die ausführliche Gespräche mit interessanten Autoren präsentiert.

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