Geschrieben am 8. Januar 2011 von für Bücher, Crimemag

Håkan Nesser: Die Perspektive des Gärtners

Von einem, der auszog, ohne zu wissen warum

– Kind entführt, Frau verschwunden, Detektiv beauftragt – und alles ist ganz anders. Kennt man? Ja. Ist trotzdem spannend. Nur diesmal anders spannend. Von Henrike Heiland

Vor drei Jahren lebte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser in New York. Wenn man ihn während dieser Zeit im Gespräch erwischte, schwärmte er einem die Ohren von der Stadt voll. New York, beste Stadt der Welt, Wahnsinnslocation und so was. Folgerichtig lebt der ich-erzählende Protagonist aus „Die Perspektive des Gärtners“ (von dem der Umschlagtext fälschlich behauptet, der Tatort sein New York, man muss Tatort bitte mit Schauplatz ersetzen) in Nessers Straße, kauft ein, wo Nesser einst einkaufte, geht spazieren, wo Nesser mit seinem Hund flanierte. Und bei jeder Seite dieses Romans denkt man: Muss das toll sein, dieses New York. Beste Stadt der Welt. Wahnsinnslocation. Anders als die Reiseführer in Romangestalt (vgl. „Regionalkrimis“) sickert diese Begeisterung für die Stadt eher durch die Zeilen, als dass sie einem ins Gesicht geklatscht wird. Das ist gut gemacht.

Gut gemacht auch der Roman als solcher: Da geht es um einen Mann, Schriftsteller von Beruf, der mit ansehen muss, wie seine kleine Tochter entführt wird. Zu der Zeit lebt er noch mit seiner Familie irgendwo in Europa. Die Polizei findet keinerlei Hinweise auf den Entführer. Nie wird eine Lösegeldforderung gestellt. Seine Frau, eine Malerin, droht an dem Verlust des Kindes und der Unsicherheit zu zerbrechen. Gut anderthalb Jahre nach der Entführung zieht das Ehepaar nach New York. Dort wird die Frau dann endgültig merkwürdig: Sie hat Geheimnisse, scheint ihren Mann anzulügen, verschwindet schließlich und hinterlässt nur eine vage Notiz. Bleibt dem Mann nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach ihr zu machen. Ein ehemaliger Polizist und Privatdetektiv, den er in der Bibliothek kennengelernt hat, hilft ihm dabei, und dann tauchen auch noch entfernte Verwandte von ihr auf, die ihre Vergangenheit erst einmal ins rechte Licht rücken. Wie es eben so geht – man stößt auf Erstaunliches, Unglaubliches, herrje, der Mann hat seine Frau offenbar nie richtig gekannt, gibt’s denn so was.

Nichts ist hier neu, was die Storyline angeht. Geübte Leser ahnen schnell, was Sache ist und klappen das Buch mit einem „Dacht ich’s mir“ zu. Aber es ist ein zufriedener Seufzer, denn hier geht es gar nicht so sehr um Twists und Überraschungen und Nie-zuvor-Dagewesenes und schon gar nicht um Alles-war-nur-ein-Traum. Was die Geschichte ausmacht, sind ihre Figuren und die erzählerischen Motive, die vielleicht vor allem. Nesser wirft – inspiriert von New York und dem Ort, an dem Edgar Allan Poe „The Raven“ schrieb – die Angel nach der Gothic Fiction aus: Doppelgänger, Duplizitäten und Synchronizitäten, eine Wahrsagerin, ein Spiel mit Identitäten … und auch, wenn sich vieles davon am Ende rational nachvollziehen lässt, ohne dass es der Autor in aller Deutlichkeit erklären muss – es bleiben Dinge bewusst unklar. Nicht zuletzt natürlich auch die Zuverlässigkeit des Ich-Erzählers, der hier und da an so manchen Erzähler bei Poe erinnern mag – in seiner Beharrlichkeit, mit der er die Vergangenheit zurechtbiegt, in seiner Hingabe, mit der er seine ihm immer fremder werdende Frau liebt.

© Paul Brissman

Eigentlich aber ist es die Geschichte eines, sagen wir mal, mittelmäßig temperamentvollen Mannes, der zunächst bereit ist, sein Schicksal zu akzeptieren und das Leben zu nehmen, wie es kommt, auch wenn es ihm die Kreativität aussaugt und die Leidenschaft nimmt – bis vage Hinweise kommen, seine Tochter könnte doch noch leben. Das ist der Moment, in dem in ihm etwas erwacht, den Krieg erklärt und zum Kampf bläst. Der brave Schriftsteller wird zum Terminator. Wenn er jemals im Stande gewesen wäre zu töten, sagte Nesser einmal sinngemäß in einem Interview, dann zu der Zeit, als seine Tochter noch klein war. Hätte ihr da jemand etwas angetan, er hätte diesen Kerl umgebracht.

Der Roman reist vom beschaulichen Europa in die neue Welt, führt dort vom übervollen liberalen New York ins dünn besiedelte, konservative Hinterland, nutzt dabei gängige Klischees und bekannte Motive zu seinem Vorteil und präsentiert ein Happy End so happy, dass die ungeklärten Fragen dem ganzen Zuckerguss einen galligen Beigeschmack geben. Dieses „Aber Moment, da war doch noch …“ und „Wieso ist denn nicht …“, diese Schatten, die sich nicht verziehen wollen, all das macht den Spaß am Buch aus, rettet es davor, eine ansonsten vielleicht zu banale und widerstandslose Erzählung von der Entführung eines Kindes zu sein.

Und – ach so, wieder die Frage: Ist das jetzt überhaupt ein Krimi, wo doch (Achtung!) Roman draufsteht und das Cover so anders ist und Nesser selbst die ganze Zeit sagt, nein, ich bin kein Krimiautor, ich mag keine Labels, geht mir weg damit? Tja. Da kann er strampeln und mit dem Fuß aufstampfen und sein Abendessen verweigern, das Label bleibt.

Håkan Nesser: Die Perspektive des Gärtners. (Maskarna på Carmine Street, 2009). Roman. Deutsch von Christel Hildebrandt. München: btb 2010. 320 Seiten. 19,99 Euro.

Interview mit Denis Scheck
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