Im Spiegelkabinett der Realitäten und Identitäten
– Gerhard Roth ist ein Grenzgänger zwischen den literarischen Genres und hat sich nicht nur durch seine monumentalen Zyklen „Archive des Schweigens“ und „Orkus“ einen Namen gemacht, sondern auch durch zahlreiche Essays, Porträts, Stadt- und Kunsterkundungen oder auch seine Fotografien des Alltäglichen. Er ist ein Autor und Künstler, der sich und die Wirklichkeit nicht gerne festlegt, sondern alle Möglichkeiten offen lässt.
Und so führt Roth den Leser auch in seinem neuen, aus den verschiedenen Perspektiven der Beteiligten erzählten Roman „Grundriss eines Rätsels“ in ein geheimnisvolles Spiegelkabinett der Realitäten und Identitäten. Im Mittelpunt steht der erfolgreiche Schriftsteller Philip Artner, der die gesamte Welt als eine Art Text wahrnimmt, „als eine endlose Schrift, ein Buch, das sich selbst immer weiter schreibt.“ Kurz vor der Vollendung seines neuen Romans – einer „Liturgie des Nebensächlichen“, in der das Wunderbare im Selbstverständlichen sichtbar werden sollte – reißt ihn und sein Manuskript eine verheerende Explosion aus dieser Welt.
Auf der Suche nach nachgelassenen Aufzeichnungen reist daraufhin Vertlieb Swinden vom Hemito-von-Dodero-Institut in ein Dorf in der Steiermark, in dem Philipp Artner nicht nur geschrieben hat, sondern auch eine Geliebte und ein Kind hatte. Er taucht in das Leben des Schriftstellers und dessen Geliebter ein und wird dabei auch noch in den Mord an drei Tschetschenen und in düstere Geheimnisse und Machenschaften der Dorfbewohner verwickelt. Schließlich muss er erkennen, dass er „von Artner geschrieben worden war“ und erleidet einen Nervenzusammenbruch.
In der Folge erzählt Gerhard Roth die Geschichte noch aus den zeitlich versetzten Perspektiven von Philip Artners Geliebter und ihrem Sohn Gabriel sowie seiner eigenen Ehefrau weiter, die sich zusammen mit Vertlieb Swinden auf eine geradezu mythische Reise durch Japan begibt.
Während das Schicksal der ermordeten Tschetschenen in diesem Roman aufgeklärt wird, bleibt das Schicksal von Philip Artner im Raum der Andeutungen, des Ungefähren und Schwankenden. Gerhard Roth lässt den Leser durch ein Kaleidoskop schauen, in dem die Prismen keine klaren symmetrischen Formen mehr annehmen, sondern auf irritierende Weise durcheinanderwirbeln und Möglichkeitsräume eröffnen. Seine Prosa ist dabei kunst- und geheimnisvoll bis an die Grenzen des Manirierten.
Karsten Herrmann
Gerhard Roth: Grundriss eines Rätsels. S. Fischer, 2014. 512 Seiten. 24,99 Euro.