Alles blieb still
Der bewegende Nachruf eines alten Mannes auf seine Frau, mit der er über sechzig Jahre zusammen sein Leben verbrachte.
Vielleicht gehört es zu den unvergleichlichen Reizen der Literatur, uns die Möglichkeit immer neuer Entdeckungen zu schenken. Einmal von dem Sog des Lesens erfasst, hört das Suchen nach Büchern nie auf, die abseits der lauten Literaturbasare und manchmal auch in den hinteren Winkeln der Verkaufsregale gut sortierter Buchhandlungen verstauben. Da erschien zum Beispiel 1995 jenseits aller öffentlichen Aufmerksamkeit ein umfangreicher Band mit Gesprächen über Literatur, das Schreiben, Lesen und das Leben, wie wir sie ernsthaft, tief und uns klüger machend schon lange nicht mehr gelesen haben. Über mehrere Monate hinweg hat der Zürcher Literaturwissenschaftler Werner Morlang in einer uns vollkommen fremd gewordenen Konzentration und Ausführlichkeit mit dem Schriftsteller Gerhard Meier über dessen Leben und Schreiben gesprochen. Das Buch, in dem schließlich diese Gespräche ihre Form gefunden haben („Das dunkle Fest des Lebens“, 1995), gibt uns die Hoffnung wieder, dass innerhalb der Literaturindustrie doch immer noch Werkstätten des soliden Schreib- und Lesehandwerks existieren. „Schweizer Wertarbeit“ nennt man dies wohl auch.
Literarischer „Dammbruch“
Obwohl die Werke von Gerhard Meier immerhin im Suhrkamp Verlag erschienen sind, ist sein Name in Deutschland wohl nur einem kleinen Kreis von Kennern zeitgenössischer helvetischer Gegenwartsliteratur ein Begriff. Dieser Kreis allerdings unterlässt keine Gelegenheit, Meier als einen der großen Schweizer Einzelgänger in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu rühmen. Kein Zorniger wie Frisch, kein Böser wie Dürrenmatt, kein Intellektueller wie Muschg, aber ein Provinzler in des Wortes bester, nicht arrogant verwendeter Bedeutung. Als Deutscher beneidet man die Schweiz nicht um ihre stinkreichen Banker, nicht um ihre verstockten Alpenpatrioten, aber um viele ihrer gebildeten, liberalen Alten, die noch ein aufgeklärtes Bürgertum repräsentieren, nach dem wir in Deutschland oft vergeblich suchen. Noch heute lebt der am 20. Juni 1917 geborene Meier in seinem Geburtsort Niederbipp unweit von Solothurn im Kanton Bern. Auch in seinen Romanen hat Gerhard Meier diesen Ort nie verlassen, ihn nur mit dem Fiktionsnamen „Amrain“ vorsichtig verfremdet. Erst spät, mit über fünfzig Jahren und nach einer drei Jahrzehnten dauernden Arbeit als technischer Leiter in einer Lampenfabrik begann er mit dem literarischen Schreiben. Was sich in dieser Zeit, in die auch noch ein langwieriger Sanatoriumsaufenthalt fiel, in seinem Kopf an literarischer Phantasie angesammelt hatte, strömte dann in den siebziger und achtziger Jahren wie nach einem Dammbruch aus ihm heraus. Sechs Romane schrieb er (zuletzt „Land der Winde“, 1990), eine große Zahl kleinerer Skizzen und Gedichte. Auch die Zahl der literarischen Auszeichnungen kann sich mittlerweile sehen lassen. DU, die vielleicht anspruchsvollste Kulturzeitschrift im deutschsprachigen Raum, widmete ihm im Januar 1990 ein ganzes Heft. Dass sich liebevolle Detailkenntnis provinzieller Angelegenheiten und Weltbewusstsein, was immer auch ein Wissen um die großen Werke der Weltliteratur einschließt, nicht widersprechen, kann man bei Gerhard Meier lernen. Er erfindet Figuren wie Baur und Bindschädler, in deren dörflichen Gesprächen sich auf faszinierende Weise die ganze Welt widerspiegelt. „Was im Dorf geschieht, geschieht in der Welt, und was in der Welt geschieht, geschieht im Dorf … Darum bin ich ein überzeugter Provinzler, und ich glaube, dass man nur Weltbürger wird über den Provinzler.“ Wie Robert Walser, einer seiner literarischen Portalfiguren, glaubt Meier, „nur in den unteren Regionen frei atmen zu können“. Ihn interessiert das Ensemble der sich am Rande der großen Geschichte durch das Leben schlagenden gewöhnlichen Menschen mehr als das Personal in den Führungsetagen der Zeitgeistproduktion. Seine Aufmerksamkeit gilt den Seitenstraßen der kleinen und ohnmächtig gehaltenen Figuren, nicht den Boulevards der Eitlen und Geschwätzigen. Es sei nicht zu befürchten, schreibt Werner Morlang in einer Hommage auf Meier in der Juni-Ausgabe von DU, dass sein Werk „in die Fänge von Reich-Ranicki und seiner Crew geraten wird“. Das ist noch ein Grund mehr, die Romane von Gerhard Meier und den ebenso klugen wie lebendigen Gesprächsband „Das dunkle Fest des Lebens“ auf keinen Fall zu versäumen.
Bewegender Nachruf
Seiner geliebten Frau Dorli, mit der Meier über sechzig Jahre zusammenlebte und die vor einigen Jahren verstarb, widmete er einen fast fünfzigseitigen Nachruf, den der Suhrkamp Verlag in einem schmalen Bändchen veröffentlicht hat. Was muss das für ein Zusammenleben, was muss das für eine Liebe gewesen sein, wenn der Hinterbliebene seinem verstorbenen Lebenspartner einen so schönen, einen so mitfühlsamen, einen so still bewegenden Text widmet?! „Am Morgen des 17. Januar 1997 rief ich Dorli beim Namen und – alles blieb still.“ Wer nach einem Geschenk für seine immer noch auf neue Literatur neugierigen Großeltern sucht, sollte sich den Namen Gerhard Meier und „Ob die Granatbäume blühen“, den Titel dieses Büchleins merken.
Carl Wilhelm Macke
Gerhard Meier: Ob die Granatbäume blühen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a Main, 2005, 47 S.