Geschrieben am 24. Oktober 2012 von für Bücher, Litmag

Geoff Dyer: Sex in Venedig, Tod in Varanasi

Vollkommen im Hier und Jetzt

– In zwei ganz unterschiedliche Welten führt der englische Kultautor Geoff Dyer in seinem neuen Roman. Auf der einen Seite steht das „carpe diem“ der Biennale-Kunstschickera in Venedig, auf der anderen Seite das „memento mori“ einer tief von religiösen Riten und Gebräuchen geprägten indischen Pilgerstadt am Ganges. Von Karsten Herrmann

In Venedig soll der alternde und resignierte englische Journalist Jeff Atman von der Biennale berichten und ein Interview mit dem Ex-Star Julia Berman führen. Doch der Job ist nur ein Randaspekt, denn „mit der Biennale betrat man ein Reich zauberhafte Exzesse“. So geht es für Jeff von einem Empfang zum nächsten, von einer Party zur nächsten. Dazwischen fällt eine Affäre mit der jungen Laura, die den Biennale-Rausch zur Glückseligkeit führt. Doch tief im Inneren nagt weiter die Sinnlosigkeit und ein Sehnen ohne Ziel: „Wann würde dieses Sehnen danach, dass etwas vorbei wäre, vorbei sein, damit er voll und ganz die Gegenwart behausen könnte?“

Leben im Hier und Jetzt

Szenenwechsel in den zweiten Teil: Der Ich-Erzähler, ebenfalls englischer Journalist, aber eher nicht identisch mit Jeff Atman, bekommt den Auftrag, eine Reisereportage von der indischen Pilgerstadt Varanasi zu verfassen. Auch er ist ein unbehauster Mensch, den nichts in seiner Heimatstadt London hält und den, einmal in Varanasi angekommen, nichts wieder zurückzieht.

Stattdessen lässt er sich hier vom Leben treiben, beobachtet die Leichenverbrennungen am Ganges, taucht in die Religion und Musik des Subkontinents ein, macht Bekanntschaften, lässt sich von Bettlern und Geschäftemachern bedrängen. Er führt ein Leben im Hier und Jetzt, anverwandelt sich und entsagt: „Das Warten war vorbei. Ich war vorbei. Ich hatte mich aus der Gleichung herausgekürzt.“

Fein perlende Prosa

Einmal mehr stellt Geoff Dyer in „Sex in Venedig, Tod in Varanasi“ sein beeindruckendes Erzähltalent unter Beweis. Seine fein perlende Prosa überzeugt mit meisterhaften Dialogen, ebenso sinnlichen wie ungeschminkten (Reise-)Beschreibungen und frechen Pointen. Auf der existenzialistischen Folie einer alles erfassenden Sinnlosigkeit und gleichzeitigen Sinnsehnsucht entfaltet Dyer seinen ganzen ironischen Witz und Wagemut. Ohne Anstrengungen auf Plot und Dramaturgie zu verwenden, lässt er seine Prosa vollkommen im Hier und Jetzt aufgehen.

Karsten Herrmann

Geoff Dyer: Sex in Venedig, Tod in Varanasi (Jeff in Venice, Death in Varanasi, 2010). Aus dem Englischen von Matthias Müller. Köln: DuMont Buchverlag 2012. 350 Seiten. 19,99 Euro.

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