Plastikbeutel, Stoffreste, Leichen
Die Tragödie der Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer. Von C.W. Macke
Man kann es natürlich prosaisch formulieren. „Der Strom der Geschichte“, schreibt der Triestiner Schriftsteller Claudio Magris, „schwemmt die kleinen Geschichten der Individuen fort und läßt sie untergehen, die Woge des Vergessens löscht sie aus dem Gedächtnis der Welt; Schreiben bedeutet unter anderem auch, am Ufer entlanggehen, stromaufwärts fahren, schiffbrüchige Existenzen auffischen und Strandgut wiederauffinden, das ich andren Ufern verfangen hat, um es zeitweilig auf einer Arche Noah aus Papier unterzubringen“.
Wesentlich nüchterner heißt dagegen am Endes des Buches von Gabriele del Grande „Mamadous Fahrt in den Tod“: „Von 1988 bis 2008 sind 8.109 Migranten im Mittelmeer sowie im Atlantischen Ozean auf dem Weg nach Spanien ertrunken. Mehr als ein Drittel aller Leichname wurde nie geborgen.“
Brutal realistisch hingegen der Bericht über das „Strandgut“ auf der tunesischen Insel Djerba: „Dort ziehen die Fischer die Toten heraus. In den Fischnetzen sind nackte Körper, Leichen in Blue Jeans, Skelette, Algen und Shirts. Es sind dieselben Küsten, an die Homer einst Odysseus und seine Gefährten, erführt von holden Sirenen, schickte und wohin jedes Jahr tausende von Touristen in Urlaub fahren.“
In den Reisebüros wird man die Recherche des italienischen Journalisten Gabriele del Grande über die Tragödien von Bootsflüchtlingen entlang der mediterranen Küsten sicherlich nicht finden. Auch erscheint die deutsche Edition dieses Buches über ein sehr tristes Gegenwartsthema nicht in einem der großen deutschsprachigen Verlage, der eine aufwendige Werbekampagne finanzieren könnte. Ein kleiner „Fachverlag für Migration und Menschenrechte“ vertreibt dieses Buch, das nirgendwo fehlen dürfte, wo heute über Europa, Armut und Menschenrechte gesprochen wird. Dem „Von Loeper Literaturverlag“ ist für diese Edition sehr zu danken, aber man fragt sich auch, ob Migration und Menschenrechte heute nur noch Themen für Fachleute sind?
Tonnenweise Luxusbilder
In neun längeren Reportagen präsentiert uns del Grande hier die Ergebnisse seiner Recherchen über die Menschen, die Jahr für Jahr extrem gefährliche Überfahrten von der nordafrikanischen Küste bis an die spanischen, griechischen und italienischen Küsten wagen, in der Hoffnung, ihrer sozialen oder politischen Misere zu entkommen. Und nicht wenige sind dabei, so kann man den Reportagen entnehmen, die ganz einfach so leben wollen, wie es ihnen die Werbebilder für Luxusprodukte versprechen. „Sonia, Alia und Khurut sind 20 Jahre alt, verirrt zwischen den traditionellen Tabus, der sozialen Kontrolle und den neuen Werten des Vergnügens und Konsums, die tonnenweise über das Internet und das Fernsehen verbreitet werden. Italien ist die Insel, die es nicht gibt, das Land der Spielsachen, das Paradies der Freiheit“. Und dafür nehmen junge Menschen diese gefährlichen Transfers auf alten Kuttern in Kauf und Zahlen Unsummen an kriminelle Schlepperbanden?
Wer wissen will, welcher Gewaltsog in den Konsummodellen des Kapitalismus steckt, sollte diese Reportagen über das Schicksal der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer lesen. Erschreckendes erfährt man auch über die Polizeimethoden in den nordafrikanischen Anrainer-Staaten des Mittelmeeres. Wird ein Bootsflüchtling noch im Hoheitsgebiet dieser Staaten festgenommen und ohne irgendeinen juristischen Schutz sofort inhaftiert. „Hamdi erzählt mir von sechs mal acht Meter großen Zellen, die mit 45 Personen überfüllt sind. Ein Quadratmeter pro Kopf, man schläft jeden abend eingezwängt auf der Erde…Er spricht von willkürlicher und unmenschlicher Folter, von Unterernährung, von Männern, die bedroht werden, weil sie den Blick nicht gesenkt haben.“
Nackte Körper in Fischernetze
Wer von uns merkt denn noch auf, wenn er Nachrichten von gestrandeten Bootsflüchtlingen im Mittelmeer hört oder Bilder von überfüllten, verrosteten Frachtschiffen sieht, auf denen sich hunderte von Menschen drängeln, die sich von ihrer Ankunft in einem europäischen Mittelmeerland ein Leben erhofft, das anders und besser und sicherer ist als das, was sie durch ihre Flucht hinter sich lassen? Aber von diesen Menschen existieren noch Bilder. Man hat, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment, ihre Existenz wahrgenommen. Was aber ist mit den vielen, von denen man nur weiß, dass sie sich irgendwann einmal auf einem der in stürmischer See untergegangenen Schiffe befanden?
Eine Notiz unter vielen aus dieser so grauenhaften Chronik des Schreckens von Gabriele del Grande: „Am 17. Februar 2006 starben 25 Flüchtlinge. Sie waren von Somalia losgefahren, durch Syrien illegal in die Türkei eingereist und wurden dann von einer Welle, weniger als eine Meile von der Schwelle des alten Kontinents entfernt, ausgelöscht.“ Was von ihnen geblieben ist? Nackte Körper, Leichen in Blue Jeans, Skelette, Algen und Shirts in den Netzen der Fischer an den Ufern des Mittelmeeres.
Soll man einem Buch, in dem von so vielen traurigen Schicksalen berichtet wird, eine große Resonanz bei den Lesern wünschen? Jeder sollte selber wissen, ob er sich diese Lektüre zumuten will.
Wer es aber gelesen hat, wird anders auf das Meer blicken, mit anderen Gedanken, vielleicht auch mit mehr Verzweiflungen als ohne das Wissen über das Schicksal der vielen Mamadous‘, die in diesem Meer ihre Hoffnung auf ein anderes Leben mit ihrem Tod bezahlt haben. Bevor diese Menschen von der Woge des Vergessens, wie Magris schreibt, ausgelöscht worden sind, hat Gabriele del Grande ihnen mit diesem Buch wenigstens eine kleine Arche Noah aus Papier geschenkt.
Carl Wilhelm Macke
Gabriele del Grande: Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer. Aus dem Italienischen übersetzt von Angela Huemer. von Loeper Literaturverlag 2008. 221 Seiten. 14,90 Euro.