Geschrieben am 16. Februar 2011 von für Bücher, Litmag

Frische Häppchen

Frische Häppchen

– Kurzrezensionen zu Ela Angerer, Willibald Sauerländer, Heinz Strunk, Arno Jaeger und Henning Ritter von Senta Wagner (sw), Tina Manske (tima) und Carl Wilhelm Macke (cwm).

Auf allen vieren krabbeln

(sw) – Das erste trashige Bändchen aus der Buchreihe Moderne Nerven des Czernin Verlags verspricht  „Unterhaltung für Nachtmenschen, Szenekenner und Junggebliebene, Vielleser und Literatureinsteiger“. Nachtmenschen waren/sind wir alle, Szenekenner speziell der Szene Wien nicht unbedingt/ganz und gar nicht, Vielleser, aber ja, Literatureinsteiger, bitte? Kurz: Lektüre für Menschen mit modernen Nerven von eben solchen Menschen geschrieben.

Den Irrsinn, Abstürze, Peinlichkeiten, Pleiten, Schweinereien, die harten Sachen erleben trotzdem immer die anderen. Zumindest schreiben sie darüber. Neben Ela Angerer versammelt das Bändchen lässige, höchst vertrauliche Kurzgeschichten von acht Autoren der Generation der in den sechziger und siebziger Jahren, und zwar in und um Wien herum Geborenen (Thomas Glavinic, Doris Knecht, Christian Schachinger u. a.). Wenig überraschend drehen sich die knappen Lebensbeichten um Drogen (existenziell), Sex (den missratenen), WG-Leben (dramatisch), New York (wildes Leben), Saufen (Bier) und den ganzen Trash und Rock’n’Roll. Die kann man nun ziemlich amüsant finden, entsprechende Übersetzungen aus dem Wiener Idiom muss man selbst vornehmen, das Ganze ist eben authentisch (Seeeaavaas, Buuuusi = Hallo, Küsschen).Wenn es runter geht, geht es auch wieder rauf, denn es scheint, oberflächlich betrachtet, dass heute keiner der Autoren mehr auf allen vieren herumkrabbeln muss. Der ein oder andere/die ein oder andere lebt sogar bestens vom Schreiben.

Im Frühjahr folgt so auch der zweite Band des Labels Moderne Nerven: „Brennstoff“ (hg. von Ela Angerer), mit 9,90 Euro fast geschenkt.

Ela Angerer (Hg.): Abwärts. Wien: Czernin Verlag 2010. 124 Seiten. 9,90 Euro.

Das Sehen lernen – Die Ausstellungskritiken von Willibald Sauerländer

(cwm) – Von Rogier van der Weyden (anlässlich der großen Ausstellung im Frankfurter Städel), über Albrecht Dürer (in der Ausstellung des British Museums in London), Raffael (in der Londoner National Gallery), El Greco (im Kunsthistorischen Museum in Wien), Paul Cézanne (im Pariser Grand Palais), Edward Hopper (im Kölner Museum Ludwig) bis zu Mark Rothko (in der Münchner Hypo-Kunsthalle) und schließlich zu Cindy Sherman (im Berliner Martin-Gropius-Bau) reicht das Panorama der von Willibald Sauerländer in diesem Band präsentierten Künstler. Sauerländer ist bei seinen Rundgängen durch die großen Ausstellungen keineswegs an einer ohnehin nicht möglichen Präsentation der Bilder interessiert. Er setzt Akzente, konzentriert sich vielleicht nur auf ein einziges Bild (etwa Adam Elsheimers „Flucht nach Ägypten“) oder wenige Skulpturen von Jean-Antoine Houdon, dem sich Sauerländer während seiner wissenschaftlichen Karriere immer wieder mit großer Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Er sei, damit enden die Zeilen über Cindy Sherman, in einer „wunderbaren Ausstellung“ gewesen. Ähnlich könnte man auch einen Hinweis auf diesen neuen Band mit Ausstellungskritiken von Willibald Sauerländer ausklingen lassen. Man hat ein wunderbares Buch über große Meister gelesen, geschrieben von einem alten Professor, von dessen jugendlicher Leidenschaft für die darstellende Kunst man sich gerne hinreißen lässt.

Willibald Sauerländer: Von Bildern und Menschen. Zu Besuch bei alten und neuen Meistern. München: C. H. Beck Verlag 2010. 195 Seiten. 22,95 Euro. Zur Leseprobe (PDF).

Höhen und Tiefen des Urlaubens

(tima) – Seit einigen Jahren fährt Heinz Strunk regelmäßig mit seinem Freund C. (ebenfalls ein bekannter Humorarbeiter, dessen Identität ich jetzt aber nicht enthülle, man kann auch so draufkommen) in Urlaub. Gemeinsames Credo dabei ist, dass auf der Reise möglichst wenig passieren soll, also – möglichst wenig erlebt werden soll. Abenteuer? – Och, nö. „Wenn ich meine Restlebenszeit darauf verwenden würde, mir meine Neurosen abzutrainieren, bliebe kaum noch Zeit für andere Sachen. Beispiel Höhenangst. Anstatt eine mehrjährige Therapie anzutreten, meide ich Berge und hohe Gebäude, geht auch.“ Dieser sympathische Ansatz führt dazu, dass sich C. und Strunk auf dem hier beschriebenen Trip nach Kenia meist mit Trinken, Schlafen und „Daddeln“, also Glücksspiel, beschäftigen. Denn Land und Leute kennenlernen, gar das bildungsbürgerliche Gehupe à la „in eine fremde Kultur eintauchen“, so einen Quatsch machen sie natürlich erst gar nicht mit. Freilich bleibt es nicht bei dieser Harmlosigkeit, denn völlig entgegen ihrer eigenen Vorsätze werden die beiden in die Turbulenzen eines Bürgeraufstands verwickelt.

Heinz Strunk beschreibt die Höhen und Tiefen des Urlaubens mit der gewohnten Sehschärfe und lakonischem Humor, sodass man das Gefühl bekommt, dieser Reise selbst beizuwohnen. Es muss einen ziemlichen Spaß machen, mit Strunk zu verreisen. Seiner eigenen Aussage nach beruht das Buch zu einem Teil auf tatsächlichen Begebenheiten, man darf raten, welche das sind.

Heinz Strunk: In Afrika. Hamburg: Rowohlt Polaris 2011. 272 Seiten. 13,95 Euro. Zur Leseprobe (PDF).

Genialer Satiriker

(tima) – Einer, von dem nicht nur Heinz Strunk sehr viel gelernt haben mag, ist Heino Jaeger. Bei Kein & Aber Records ist mittlerweile die vierte CD mit Archivaufnahmen dieses genialen Parodisten erschienen. Wieder sind darin Ausschnitte aus der legendären Sendung „Lebenspraxis Dr. Jaeger“ enthalten, aber auch andere Live-Mitschnitte und private Aufnahmen. Fantastisch beispielsweise Jaegers Darbietung des alten Ehepaars, das auf seine Gäste wartet und dabei über Einrichtungsgegenstände, Metabolismus und die nächste Mahlzeit spricht: Besser kann man diese ganz bestimmte soziale Schicht und Generation nicht mit ihren eigenen Worten und Stimmen charakterisieren.

Die Entdeckung des genialen Satirikers Heino Jaeger, der 1997 in einem Pflegeheim starb, geht also Gott sei Dank weiter. Die Verfilmung von Heino Jaegers Leben soll in Vorbereitung sein mit Olli Dittrich in der Hauptrolle, das Drehbuch schreibt Rocko Schamoni. Klingt nach einer lohnenden Unternehmung, man darf gespannt sein. Jetzt aber erstmal wieder ausgedehnt Jaeger im Original hören!

Heino Jaeger: Sie brauchen gar nicht so zu gucken. Monologe und Szenen. Herausgegeben von Joska Pintschovius. CD. Zürich: Kein & Aber Records 2010. 76 Minuten. 16,90 Euro. Einige Hörproben finden Sie hier.

Grenzen des menschlichen Mitleids

(cwm) – „Lisbonne est abimée, et l’on danse à Paris.“ Lissabon liegt in Trümmern und in Paris wird getanzt. Das Zitat stammt von Voltaire, geschrieben hat er es Ende 1755, als ihn die Kunde von dem verheerenden Erdbeben in Lissabon erreichte. Und er fügte auch noch scheinbar kaltherzig hinzu, „alles läuft gut in Lissabon“. Mit scheinbar provozierender Nüchternheit registriert Voltaire hier die Grenzen des menschlichen Mitgefühls für die Leiden anderer Menschen in weit entfernten Regionen der Erde. In seinem glänzenden Essay über „Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid“ kommentiert Henning Ritter diese kühle Distanz des Aufklärungsphilosophen gegenüber dem Leid in der Ferne als einen „einprägsamen Beitrag zur Theorie der moralischen Gefühle in einer Welt, deren Informiertheit weiter reicht als die Gefühle. Man weiß viel und vergißt schnell“.

Das Buch von Henning Ritter ist keine Neuerscheinung mehr, aber seine Thematik ist gerade in diesen Tagen von großer Aktualität. Man wird durch die Medien – und durch die extreme Aktualität des Internets ganz besonders – noch stärker über die blutige Zusammenstöße, Naturkatastrophen, Hungerkatastrophen, Armutsexplosionen, Menschenrechtsverletzungen in fast jedem Winkel des Globus‘ rund um die Uhr informiert, weiß aber nicht, was man selbst zur Verbesserung der Welt beitragen kann. Henning Ritter kann uns mit seinem Versuch über das Mitleid auch keinen Ausweg aus diesem Dilemma anbieten, aber das Buch hilft, angesichts von großen Katastrophen weit weg von unserem Alltag, ein Gleichgewicht von Vernunft und Emotion aufrechtzuerhalten. Wie anders soll man sich denn gegenüber der täglichen Flut an Katastrophennachrichten einigermaßen ehrlich und aufrecht verhalten?

Henning Ritter: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid. München: C. H. Beck Verlag 2005. 224 Seiten.