Geschrieben am 20. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Franzobel: Santa Scala

Brillant-skandalöse Sprachorgie

Mit allen Mitteln seiner Kunst entfacht der Sprachderwisch Franzobel in diesem Roman ein explosives Feuerwerk von ungeheuerlicher Bild- und Metapherngewalt.

Es sei sofort gesagt: „Santa Scala“ bietet ein ganz aussergewöhnliches, ja exorbitantes Leseerlebnis. Mit allen Mitteln seiner Kunst entfacht der Sprachderwisch Franzobel in diesem Roman ein explosives Feuerwerk von ungeheuerlicher Bild- und Metapherngewalt – da wimmelt es von so schönen Worten wie „Himbeerdenken“ und „Mayonaisesonne“, da gründeln „Gedanken wie Seegurken durchs Wasser“ da bohrt sich die Mittagssonne fühlbar in ein Gesicht: „Au! Ein Einschnitt, dieses Licht, eine Besoffenheit, ein Überfall.“ Das spröde Wortmaterial verwandelt sich unter Franzobels schwarzer Braukunst in einen überbordenden sinnlichen Rausch und transzendiert sich mühelos in grotesk-skandalöse Wirklichkeitsdimensionen.

Doch genug der lobende Vorrede und hinein in das Geschehen: „Santa Scala“ ist die „Geschichte einer Liebe und die Chronik vom nicht stattfindenden Glück, von der Vergeblichkeit“ – und beginnt mit einem Mord in Wien: „Da. Ein Schuß, ein Echo, etwas Dumpfes … Ein Mann, offensichtlich tot … Das Leben war aus ihm gescheucht, so lag er da, verwelkt, eingerissen wie ein verfallener Hühnerstall.“

Nach diesem Eröffnungs-Paukenschlag bevölkert sich das Buch nach und nach mit unzähligen kleinen Subgeschichten und einem äusserst reichhaltigen Personal, das so bezeichnende Namen trägt wie Fifi Krumpl, Bruno Scheidewasser, Anna Hasentütl oder Feister Fridolin. Es sind monströse, an Otto Dix erinnernde Speck- und Schmähgestalten aus dem kleinbürgerlich-katholizistischen Wiener Milieu, in dem die dumpfe Gewalt, die Sünde und eine alles verzehrende Sexualität blüht – und so schwingt „Santa Scala“ sich auch hinein in eine wüste (Sprach-) Orgie, die nichts für schwache Nerven und moralinsaure Seelen ist.

Über weitere Morde, Totschläge und absurde Zwischenfälle werden die verwirrend aufblitzenden Episoden langsam und ganz im Sinne einer dem Roman immanenten Poetik miteinander verknüpft: „Eine Erzählung bedeutet, Schlingen auszulegen und zu warten. Zu warten, bis die aus dem Ahnungslosen kommenden Personen reinsteigen. Dann muß man zuziehen, achtgeben, daß sich die Gestalten nicht verheddern, Leine geben, laufen lassen, um sie unmerklich, erst nach und nach zusammenzuführen.“

Mit diabolischem Humor läßt Franzobel dabei den seligen Papst Pius IX. als einen hämisch kommentierenden und geschickt fädenziehenden Erzähler auftreten. Dort, wo er als Säulenheiliger seine letzte Heimstatt gefunden hat – nämlich in der geschichtsträchtigen römischen Kirche Santa Scala – schießt der Roman schließlich auch zu einem apokalyptisch-defätistischen Höhepunkt zusammen, der in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht.

Karsten Herrmann

Franzobel: Santa Scala. Roman. Zsolnay, 394 S., 39.80 DM