„Warum fürchten wir Castro?“
Kein westlicher Journalist kam Fidel Castro je so nahe wie er. Sieben Tage Interview gewährte ihm der „Maximum Leader“. Lee Lockwoods legendäres Foto- und Reportage-Buch von 1967 ist jetzt umfänglich erweitert wieder aufgelegt worden. Ein Zeitdokument extraordinaire, findet Alf Mayer.
Der Kalte Krieg war wirklich kalt. So kalt, wie ihn sich Nachgeborene kaum vorstellen können. Jeder Kontakt mit der anderen Seite konnte kontaminieren. War ein Skandalon. Klar ging es um Deutungshoheit, aber auch um die Angst vor dem „mandschurischen Kandidaten“, wie Richard Condons vielfältig medial aufgegriffener Roman über einen gehirngewaschenen hochrangigen Attentäter von 1959 im Original hieß. Solch ein „Botschafter der Angst“ (der deutsche Titel von Condons Roman und auch der von zwei Verfilmungen) war und ist ein Kernstück der nicht nur amerikanischen Paranoia. Einer der eigenen Leute, vielleicht sogar ein Kriegsheld, kehrt als Schläfer zurück, als Agent der Gegenseite – dieses Thema befeuert zum Beispiel auch die TV-Serie „Homeland“, von der bereits die Staffeln 7 und 8 in Planung sind. Die Paranoia ist nicht tot im 21. Jahrhundert. Ganz im Gegenteil.
Den ikonografisch dringlichsten Beweis, dass „den Roten“ solche mandschurische Kandidaten zuzutrauen sind, lieferte ausgerechnet jener Fotograf, um den es hier im Folgenden gehen wird: Lee Jonathan Lockwood (4. Mai 1932 –31. Juli 2010). Auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs war Lockwood 1967 der erste westliche Fotograf, der Nordvietnam bereisen konnte. Das Ergebnis seines 28tägigen Besuchs war die Titelgeschichte des „Life“-Magazins vom 7. April 1967, der üppig illustrierte Essay „North Vietnam Under Siege“ (Nordvietnam im Belagerungszustand). Eines der ganzseitigen Fotos zeigte den im Januar 1967 abgeschossenen und gefangen genommenen US-Piloten Lt. Cmdr. Richard A. Stratton in einem Sträflingsanzug, wie er sich tief vor einem nordvietnamesischen Offizier verbeugt. Das Bild fand weite Verbreitung, es beflügelte all die Paranoia vor der „roten“ und „gelben“ Gefahr. Das Außenministerium der USA beschuldigte Nordvietnam der Gehirnwäsche an amerikanischen Kriegsgefangenen. (Stratton wurde 1973 freigelassen. In einem Interview von 2008 meinte er, seine damaligen Äußerungen hätten mehr mit gesundem Menschenverstand als mit Gehirnwäsche zu tun: „Du wirst gefoltert, und alles, was du tun musst, um sie zum Aufhören zu bringen, ist, dasselbe wie Bobby Kennedy zu sagen.“)
Ein Meisterstück in Grenzgängertum
Es geht hier also auch um die Macht der Bilder. Und um den Zugang zu politisch wie ideologisch verbotenem Territorium. Der Mann, der während seiner Militärzeit in Deutschland auch Elvis fotografiert hatte und nun eben in Hanoi den Marineflieger Stratton, hatte sein Visum für das verbotene Vietnam in einem ebenfalls von den USA verfemten Land ergattert, nämlich in Kuba. Dort war ihm sein Meisterstück in Grenzgängertum gelungen. Als er für seine Reportage nach Vietnam aufbrach, sorgte zuhause gerade sein aktuelles Buch „Castro’s Cuba, Cuba’s Fidel: An American Journalist’s Inside Look at Today’s Cuba in Text and Picture” (Macmillan, 1967) für Furore. Es war ein tabubrechendes Werk. Ein Blick ohne Scheuklappen auf eine kommunistische Gesellschaft nur gut 150 Kilometer vom amerikanischen Festland entfernt und ein aus einem siebentägigen Gesprächsmarathon destilliertes, ausführliches Interview mit einem vom Westen verteufelten Politiker – mit Fidel Castro.
Lockwood, der als Fotojournalist für Publikationen wie Life, Newsweek, The London Times, Bunte und Jours de France arbeitete, war erstmals an Sylvester 1958 nach Kuba gekommen. Am Neujahrsmorgen floh der Diktator Batista. Lockwood begleitete Fidel Castro und seine Revolutionäre, die eben noch Partisanen gewesen waren, auf dem Triumphzug nach Havanna, war dann noch einige Male auf der Insel, ehe die CIA-Aktion in der Schweinebucht – ein Stoff vieler Thriller und Kriminalromane – für eine heftige Eiszeit sorgten. Lockwood durfte 1964 wieder für drei Wochen nach Kuba, seine in vielen Ländern publizierten Reportagen zeichneten ein anderes Bild als das der US-Propaganda. Im Mai 1965 war Lockwood wieder zurück, dieses Mal blieb er für 14 Wochen, reiste (natürlich von Aufpassern begleitet) herum und hatte inzwischen so viel „standing“ beim Líder Máximo gewonnen, dass es auf der vor Havanna liegenden Isla de Pinos zu dem einwöchigen Mammut-Interview kam. Die Unterhaltungen wurden unter Leitung von Castros dickbäuchigem Chefstenografen Tamargo dokumentiert; nur wenige Wochen zurück in New York, erhielt Lockwood eine in fünf Büchern gebundene Abschrift. Insgesamt 420 Seiten Castro pur.
Castro – von ganz nah
Zusammen mit 100 Schwarz-weiß-Fotos wurde daraus Lockwoods Buch von 1967. Es bildet die Grundlage für die nun vom Verlag Benedikt Taschen vorgelegte Prachtausgabe, gegenüber dem Ur-Buch wurde sie in mehrjähriger Arbeit umfangreich ergänzt. Die 200 zusätzlichen, meist farbigen Fotos stammen von Lee Lockwood und aus seinem Center for Cuban Studies. Hilfreiche Bildlegenden, eine Anmerkung der formidablen Herausgeberin Nina Wiener und zwei Essays des filmemachenden Geschichtsprofessors Saul Landau machen das Buch zu einem ziemlich einzigartigen Dokument. Wer Castro nahe kommen und ihm ohne Scheuklappen begegnen will, findet hier viel Unmittelbares.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 2010 schrieb Lee Lockwood noch ein Fazit (im Buch die Seiten 325 bis 340). 50 Jahre später blickt er darin auf seine Begegnungen mit Castro zurück, auf die dunklen und die hellen Seiten der Revolution. Der Text liest sich als großes Plädoyer für das Begraben alter Ängste. „Warum fürchten wir Castro?“, fragt Lockwood und er fordert: „Für uns ist es an der Zeit, die Kubanische Revolution als ein Fait accomplit zu akzeptieren und mit ihr auf eine Weise umzugehen, die uns als ein demokratisches Volk ehrt.“ Seit dem 17. Dezember 2014 läuft sie, die Annäherung der USA an Kuba. Es wird einer der historischen Verdienste von Obama bleiben.
Erstaunlich viele Themen
Lee Lockwoods Buch ist enorm lesbar, hier schreibt ein Journalist, dessen Medien das Wort und das Bild sind. Seine Berichte oszillieren zwischen Tagebuch, Porträt, Gespräch, szenischer Beschreibung und Nachdenklichkeit, transportieren viel Unmittelbarkeit. Auf breiterer Basis ergänzt es das ebenfalls wichtige Kuba-Buch des Fotoreporters Burt Glinn, die Momentaufnahme „Kuba 1959- Szenen einer Revolution“ (Midas Verlag, Zürich, ausführliche und diesen Artikel bestens ergänzende CM-Besprechung von Peter Münder hier). Das große Interview mit Fidel nimmt bei Lockwood die Seiten 121 bis 275 ein, ergänzt von weiteren Gesprächen. Die Themenvielfalt und Tiefe der Gespräche ist erstaunlich: Da geht es auch um die Sprache als demagogisches Element, um Che Guevaras Verschwinden, um viele Aspekte der Revolution und des gesellschaftlichen Umbaus, um Hindernisse und den Menschen als eingeschränkt revolutionäres Subjekt, um Marxismus, Bildung und Macht, Kapitalismus und Konsum, Prostitution und Sex, die Raketenkrise, den Rassenverhältnissen in den USA, um Indoktrination und Kontrolle, Zensur und Maßstäbe für Künstler, den Umgang mit Homosexuellen und Dissidenten. Ein eigenes Kapitel behandelt das Thema politische Gefangene, Lockwood, der als erster Journalist kubanische Gefängnisse besuchen durfte, steuert dazu Notizen aus Gesprächen mit Häftlingen bei und sensationelle Fotos aus dem 1928 erbauten Panopticon-Gefängnis von Nueva Gerona auf der Isla de Pinos, in dem Castro von 1953 bis 1955 inhaftiert war – ein Gestalt gewordener wet dream für Jeremey Bentham.
Teil der Gegenwart
Als Saul Landau 2009 mit einer kleinen Privatdelegation, Harry Belafonte und Danny Glover inklusive, den damals 83jährigen Castro in seinem Reihenhaus besuchte, sah er dort Lee Lockwoods Buch in mehreren Ausgaben im Regal stehen. Gegen Ende der Unterhaltung sagte ihm Castro beinahe im Flüsterton: „Die Herausforderungen, vor denen moderne Politiker stehen, etwa der Klimawandel oder die Kontrolle der Atomwaffen, erscheinen mir gewaltig. Sie gehen über die Probleme meiner Zeit weit hinaus. Ich bedaure sie. Und du weißt ja, ich bin auch Politiker.“
Lee Lockwood berichtete viel über die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, gründete das Center for Cuban Studies in New York, besuchte Eldridge Cleaver, den nach Algerien geflohenen Mitbegründer der Black Panther („Conversation With Eldridge Cleaver: Algiers”, 1970), widmete ein weiteres Buch dem Jesuiten und Friedensaktivisten Daniel Berrigan („Absurd Convictions, Modest Hopes — Conversations After Prison With Lee Lockwood”,1972).

Lee Lockwood und Fidel Castro auf einem kubanischen Baseballfeld, 1964. (c) Lee Lockwood / TASCHEN 2016
Ein Foto von Lee Lockwood findet sich im Buch auf Seite 364/365. Das Titelbild zeigt Castro bei einer Gesprächspause auf der Isla de Pinos, lässig in einem Schaukelstuhl, die Schuhe ausgezogen. In Sachen Castro war es Lockwood wichtig, seinen amerikanischen Lesern das vollständige Porträt eines Mannes zu geben, den viele bestenfalls nur als Rätsel, die meisten als Dämonen kannten. „Wir mögen Castro nicht, also verschließen wir die Augen und halten uns die Ohren zu“, schrieb er 1967 in seinem Vorwort. „Aber wenn er wirklich unser Feind und für uns so gefährlich ist, wie man uns erzählt, dann, meine ich, sollten wir über ihn so viel wie möglich wissen. Am besten lernt man einen Menschen kennen, indem man sich anhört, was er zu sagen hat.“ Lockwood hat mit diesem Buch erreicht, was er sich damals gewünscht hat – nämlich aus der Vergangenheit einen aufregenden Teil der Gegenwart zu machen.
Alf Mayer
Lee Lockwood, Saul Landau: Castros Kuba. Ein Amerikaner in Kuba. Reportagen aus den Jahren 1959–1969. Hardcover, Format 25,5 x 34 cm, über 300 Abbildungen. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2016. 368 Seiten 49,99 Euro. Verlagsinformationen.
Nachtrag: Kuba im Kriminalroman
Castros Kuba hat sich von dem, was Lee Lockwood eine „außergewöhnliche Revolution“ nannte, zu einer dysfunktionalen Gesellschaft entwickelt, notierte Saul Landau 2011 in seinem Nachwort zu Lockwoods erweitertem Buch. „Statt Phantasie, Kreativität, Spontaneität und Begeisterung findet man heute eine ernsthaft überalterte Parteiführung, die Werte predigt, die sie selbst nicht lebt“, schreibt der mehrmals mit der Filmkamera auf die Karibikinsel gereiste Altlinke (Fidel, 1968; The Uncompromising Revolution, 1988).
Lockwoods Buch ist keineswegs unkritisch, aber es beschreibt und dokumentiert die Jahre 1959 bis 1969. Wer das neuere Kuba verstehen will, kommt an Leonardo Padura nicht vorbei, der – sagen wir es bei CrimeMag nicht immer wieder, siehe auch Else Laudan in dieser Juni-Ausgabe – das Genre des Kriminalromans und hier explizit den noir wählte, um seinen Lesern Kuba so nahe zu bringen, wie es Berichte und Studien nie können. In der von Thomas Wörtche herausgegebenen Metro-Reihe erschien, übersetzt von Hans-Joachim Hartstein, unter anderem das zwischen 1991 und 1998 entstandene, großartige „Havanna Quartett“ mit dem Detektiv Mario Conde (Ein perfektes Leben, Handel der Gefühle, Labyrinth der Massen und Das Meer der Illusionen; Unionsverlag 2003 bis 2005).
Der erste Mario-Conde-Roman des 1955 geboren Leonardo Padura (Pasado perfecto) wurde in Mexiko veröffentlicht und stand in Kuba auf dem Index. Der zweite (Vientos de cuaresma) gewann einen kubanischen Literaturpreis, der dritte Teil des Havanna-Quarttets (Mascaras) war erst zuhause verboten, gewann einen spanischen Literaturpreis, auch das vierte Buch (Pasajes de otono) erschien zuerst in Spanien. Padura schreibt auf schmalem Grat. Er meinte dazu: „Die Leute denken, was ich äußere ist ein Maßstab für das, was gesagt oder nicht gesagt werden darf auf Kuba.“
Das weltweite Standardwerk u.a. zum Kriminalroman in Kuba stammt von Doris Wieser, CrimeMag-Lesern als kluge Renzentin bestens bekannt. Titel: „Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrtausendwende. Typen und Kontexte“ (2012), aus der Reihe LIT Ibéricas. Estudios de literatura iberorrománica. Beiträge zur iberoromanischen Literaturwissenschaft. Verlagsinformationen hier.
PS. Ein Kuba-Kapitel der besonderen Art beschreibt Brendan I. Koerner in seinem wahnwitzigen, aber an der Realität orientierten Sachbuch „The Skies Belong to Us: Love and Terror in the Golden Age of Hijacking Hardcover“ (Crown, 2013). Nämlich das der Flugzeugentführungen nach Kuba. (Siehe auch die „Bloody Chops“ in dieser Ausgabe.)