Mörder unter und in uns – Wolfgang Staudte
Von Klaus Gietinger
Wolfgang Staudte war einer der besten Filmregisseure des Nachkriegs. Er verband politischen Anspruch mit Unterhaltung und Satire und gehörte zu den wenigen deutschen Regisseuren, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Filmkunst machten. Das heißt seine Kinofilme sind auch immer optisch ein Genuss, bzw. sie provozieren das Auge genauso wie das Ohr. Dabei kann man Staudte als wirklich deutschen Filmemacher bezeichnen. Denn er drehte in drei Systemen. Unter den Nazis, in der DDR und in der BRD.
1906 geboren in Saarbrücken, aufgewachsen in Berlin, angefixt von den schauspielenden Eltern, verdingte er sich nach der Schule als Automechaniker. Seinen Hang zu großen, schnellen Kfzs verlor er leider nie. Als Schauspieler scheiterte er 1926 in der Provinz. Doch über die Volksbühne schnupperte er auch Filmluft, aber nur als Kleindarsteller. Die Nazis entzogen ihm 1933 die Erlaubnis auf dem Theater zu spielen. Er wurde Sprecher, Texter und Werbefilmer und lernte so sein Handwerk von Grund auf. 1937 machte der Sportwagenfan einen 45Minüter über den Rennfahrer Bernd Rosemeyer, einen NS-Starsportler und geriet so zum ersten Mal in die Nähe faschistischer Ästhetik und Ideologie. Mit einigen erfolgreich absolvierten, unpolitischen Testfilmen bot er sich als Spielfilmregisseur der Tobis an. Das war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und hier machte er den großen Fehler seines Lebens, den er später bitter bereute und der Antrieb für sein ganzes späteres Schaffen wurde: Er wirkte als Kleindarsteller mit in dem antisemitischen Hetzfilm Jud Süß (1940). Angeblich weil er sonst seine UK-Stellung, seine Freistellung vom Kriegsdienst, verloren hätte. Ob das so war, ist umstritten. Jedenfalls durfte er – bis die Alliierten den deutschen Faschismus besiegt hatten – noch zwei unpolitische Langfilme machen und einen der wohl als politisch verstanden und deshalb verboten wurde: Der Mann dem man den Namen stahl (1944). In diesem Film wandte er schon eine dem behäbigen Ufa-Stil widersprechende Ästhetik an: Schwindelerregende Kranfahrten, extreme Großaufnahmen und Perspektiven, sowie swingende Musical-Auftritte und eine anarchische, antibürokratische Story. Das war für die NS-Zensur zu viel. Jetzt war Staudtes UK-Stellung tatsächlich bedroht. Heinrich George soll ihn geschützt und für ein Filmprojekt angefordert haben. Staudte rettete sich über die Zeit.
Nach der deutschen Kapitulation
Staudte lebte 1945, wie viele, in Trümmern, jammerte aber nicht, wie die meisten über sein Schicksal, sondern machte es sich zur Aufgabe, den deutschen Faschismus filmisch aufzuarbeiten. Bei den Westalliierten fand er kein Gehör, kein geringerer, als der später als Schauspieler berühmt gewordene Peter van Eyck (Lohn der Angst), wiegelte ihn als US-Offizier – „in bestsitzender Uniform“, wie später Staudte bemerkte – ab und prophezeite, dass jetzt auf Jahre hinaus keine deutschen Filme mehr entstünden. Doch Staudte gab nicht auf. Bei der sowjetischen Besatzungsmacht fiel seine Absicht, einen Film über deutsche Schuld, bzw. über Schuldige zu machen, auf fruchtbaren Boden. Sein erstes Meisterwerk entstand. Die Mörder sind unter uns (1946) mit der jungen Hildegard Knef als Lichtgestalt, mit Ernst Wilhelm Borchert als Mitläufer der bei Kriegsverbrechen stillgehalten hat und mit Arno Paulsen als Mörder, der Frauen und Kinder hatte erschießen lassen und jetzt Karriere machte. Den Drehbuch-Schluss, bei dem der Mörder in Selbstjustiz vom Ex-Mitläufer erschossen wird, musste er abändern. Der sowjetische Kulturoffizier Sergej Tulpanow wollte keine Propaganda für Selbstjustiz. Staudte sah das ein.
Der Film ist auch formal eine radikale Abkehr von der NS-Ufa-Ästhetik, zeigt Großaufnahmen, Vorder- und Hintergrunddramaturgie, hat Licht und Schatten, Montage- und Tonexperimente und knüpft an den Expressionismus des deutschen Vorkriegsfilms an. Auch scheut er keine Flashbacks. Damit hebt er sich nicht nur von den Nazifilmen ab, sondern auch von allem was später in den 50er und 60ern in Westdeutschland an filmischem Analphabetentum praktiziert wurde.
Es folgten der Defa-Film Rotation (1949, der sein eigenes Mitläufertum thematisierte) und bei dem seine pazifistische Sicht der Dinge mit den ostdeutschen Zensurbehörden kollidierte. Schließlich eines seiner Meisterwerke: Der Untertan (1951 ebenfalls Defa), nach Heinrich Mann. Die einzig mir bekannte Literaturverfilmung, die das Original noch übertrifft. Ein Feuerwerk grandioser filmischer Einfälle und eine Studie über den deutschen autoritären Charakter, die weit über den darin karikierten Wilhelminismus hinaus Geltung beanspruchte. Und das wurde auch so verstanden. In Bonn verbot der geheime und verfassungswidrige „Interministerielle Ausschuss“ – eine illegale Zensurinstanz der Adenauerregierung – die Einfuhr des DDR-Filmes. Der Spiegel bezeichnet Staudte als „politischen Kindskopf“ und „verwirrten Pazifisten“. Erst 7 Jahre später konnte Der Untertan in einer beschnittenen Fassung (12 Minuten kürzer) in westdeutschen Kinos gezeigt werden. Unzensiert wurde der Film in der BRD erst 1971 gezeigt.
Staudte, der kurz nach Der Untertan in Hamburg einen Spielfilm drehen wollte, sollte gezwungen werden nicht mehr für die Defa zu arbeiten und einen antikommunistischen Kommentar veröffentlichen. Zwei Verfassungsschutzagenten, die ihn aufsuchten (Staudte: „Ich hätte mich nie getraut, die in der Kostümierung in einem meiner Filme auftreten zu lassen.“) und fragten, ob er noch zu seinem Film Die Mörder sind unter uns stehe, antwortete er: „Seit ich Sie gesehen habe, mehr denn je.“ Er brach die Dreharbeiten ab und arbeitete wieder für die Defa. Man schlug ihm vor Brechts Mutter Courage zu verfilmen. Regie-Kollege und Brecht-Freund Erich Engel riet in fröhlicher Runde ab. Staudte aber wollte den Film machen: „Auch auf die Gefahr hin, dass mich Brecht totschlägt.“ Fritz Kortner ergänzte: „Das ist das Mindeste.“ Doch Staudte nahm den Kampf auf, erarbeitete mit dem „Einstein des Theaters“ (wie B.B. sich selber nannte) ein Drehbuch, verbat sich aber vertraglich das Erscheinen des Wort-Meisters im Atelier. Diesen Bann hob er aber aus Gutwilligkeit selbst auf und es kam zum Eklat. Brecht, der sein Dogma vom epischen Theater durch Staudtes sinnlichen Regie-Stil ins Gegenteil verkehrt sah, rastete im Studio in Babelsberg aus. Hinzu kam, dass Staudte sich in seine Nebendarstellerin Simone Signoret verguckt hatte und sie der eigentlichen Hauptfigur, gespielt von Helene Weigel, Brechts Ehefrau, vorzog. Die Weigel protestierte ebenfalls heftig. Der Streit ging hoch bis zu Ulbricht, der sich aber klugerweise raushielt. Die Dreharbeiten wurden abgebrochen, die Muster noch jahrelang stolz Besuchern der Defa gezeigt. Sie sind aber leider verschollen. Der Defa-Führung war das alles peinlich. Staudte wurde zwischenzeitlich als Ersatz die Regie bei einem Märchenfilm angeboten: Die Geschichte vom kleinen Muck (1953). Einer der schönsten Märchenfilme überhaupt, der erste Farbfilm der Defa, entstand. Auch das ein Meisterwerk. Zudem nicht nur der erfolgreichste Märchenfilm der DDR, ja Deutschlands, sondern auch ein Exportschlager. Er soll übrigens der Lieblingsfilm Ho Chi Minhs gewesen sein.
Doch nach dem Brecht-Debakel arbeitete Staudte lieber ganz im Westen und unterwarf sich den Bedingungen kapitalistischer Filmproduktion. Einige mittelmäßige Filme entstanden, bis er eher durch Zufall die Chance bekam ein weiteres Meisterwerk abzuliefern: Rosen für den Staatsanwalt (1959) erzählt von der Kontinuität des Faschismus in der BRD. Ein Ex-Nazi-Richter begegnet im Nachkriegs-Westdeutschland seinem Opfer, das nur durch Zufall der Ermordung entkam. Der Film, grandios besetzt und gespielt (Martin Held, Walter Giller, Ingrid van Bergen, Wolfgang Neuss, Werner Finck), war, auch wegen seiner satirischen Elemente, bei Kritik und Publikum gleichermaßen erfolgreich. Allerdings: Zum letzten Mal im Kino für Staudte. Denn einer seiner radikalsten Filme, Kirmes (1960), kurz danach gedreht, erzählt anhand eines Dorfes, wie sich Mitläufer, autoritäre Charaktere und Alt-Nazis in der BRD 15 Jahre nach Kriegsende bei der Verdrängung von Schuld die Hand geben und gleichzeitig die Fäden der Macht wieder in Händen halten. Die zufällig gefundene Leiche eines Deserteurs wirft den Zuschauer – eingeleitet durch eine atemberaubende Überblendung – zurück in die Nazizeit und schildert die Feigheit der faschistisch infizierten Masse. Der junge Götz George, dessen Vater Heinrich selbst ein Mitschuldiger war, aber (siehe oben) auch Staudte vor dem Kriegsdienst gerettet hatte, gibt hier eine der besten Vorstellungen seiner Karriere. Es war klar, dass ein solches Tabuthema (mit einem Deserteur als Hauptfigur) damals bei Kritik wie Publikum nicht ankam. Noch einmal, vier Jahre später, 1964, versuchte sich Staudte mit einem ähnlichen Tabu-Thema. Herrenpartie. 20 Jahre nach einem Wehrmachts-Massaker, verirrt sich ein deutscher Männergesangsverein in ein jugoslawisches Dorf, indem nur Frauen leben. Der Film trägt Züge einer griechischen Tragödie und ist formal wie inhaltlich einmalig. Doch er war seiner Zeit weit voraus. Denn erst 30 Jahre später wollte die inzwischen wieder gesamtdeutsche Öffentlichkeit etwas über Wehrmachts-Verbrechen hören.
Auch der Film floppte. Vorher jedoch gelang ihm doch noch eine Brecht-Verfilmung (Brecht war ja schon tot): Die Dreigroschenoper (1962/63), eine internationale Großproduktion mit internationaler Besetzung (Curd Jürgens, Hildegard Knef, Gerd Fröbe, Sammy Davis jr. und Lino Ventura!). Ein heute extrem schräg wirkender Film, der Brecht sicherlich im Grab hat rotieren lassen. Aber: Der Streifen spielte sein Geld ein.
Als 1968 – auch bedingt durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei – ein weiteres Ost-West-Kino-Projekt Staudtes in Bulgarien – das er auch noch selber produziert hatte – scheiterte (Heimlichkeiten), blieb ihm nichts Anderes übrig, als seine Schulden durch Fernseharbeit abzutragen. Man schätze Staudtes Können und seine Routine: Zahllose Kommissar-Folgen, Tatorte und Mehrteiler entstanden unter seiner Regie. Am bekanntesten, der Vierteiler Der Seewolf (1972), nach Jack London, mit der berühmten Einhand-Rohe-Kartoffel-Quetsch-Szene, die tausende deutsche Männer zur Nachahmung in den Kartoffel-Keller trieb, wo sie versagten.
Wohl kein deutscher Nachkriegsregisseur hat so viel Filmmaterial belichtet, wie Staudte. Und in manchem TV-Movie spürte man noch seine Kritikfähigkeit und seine cineastische Meisterschaft. Vor allem: Seine Bekanntheit schützte ihn vor redaktionellen Zensur-Versuchen, etwa vom Bayerischen Rundfunk bei dem Tatort Tote brauchen keine Wohnung (1973, Buch: Michael Molsner, mit Walter Sedlmayr als Spekulanten), der sich Immobilien-Haien widmete. Staudte drohte einfach mit der Öffentlichkeit und die indizierten Szenen blieben drin. Schade war es trotzdem, dass ein solcher Meister nicht mehr fürs Kino arbeitete. Auch, weil die Fraktion der Oberhausener „Jungfilmer“ um Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff und auch Helma Sanders-Brahms (siehe ihren Buch-Beitrag) nichts mit ihm zu tun haben wollte. Sie verorteten ihn bei Opas Kino. Dabei war und ist seine Handschrift nach wie vor modern und die von ihm angeprangerten Zustande erweisen sich keineswegs als obsolet. Mittels neuer Geschichtsinterpretationen erhalten heute neue rechte Massenbewegungen auch ideologisch Futter. Politisch Filme zu machen, wie Staudte und dabei das Ästhetische nicht zu vergessen wie er, ist eine Hauptforderung unserer Zeit.
All das und noch viel mehr kann man in dem neuen Buch über ihn nachlesen: Wolfgang Staudte: „…nachdenken, warum das alles so ist“, Marburg (Schüren) 2017, hrsg. von Uschi Schmidt-Lenhard und Alf Gerlach.
Die Aufsätze verorten die politische und psychologische Wirkung von Staudtes Filmen im Nachkriegsdeutschland und warten mit interessanten Details auf, so die jenseitigen „Gutachten“ der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW).
Einzelanalysen von Der Untertan, Rosen für den Staatsanwalt u.a., werden ergänzt durch die Analyse seines Tatortes Tote brauchen keine Wohnung.
Ein Text würdigt außerdem Staudtes überragende Arbeit als Synchronregisseur für drei Meisterwerke Stanley Kubricks (Clockwork Orange, Barry Lyndon, Shining).
Kurzweilig, die Erinnerungen von Prominenten, wie Oskar Lafontaine, Götz George, Armin Müller-Stahl, Vadim Glowna u.a.
Eine kluge Chronik, die Staudtes Schaffen im zeitgeschichtlichen Kontext einordnet, schließt den Band ab.
Das Buch hat die Kraft, eine Wolfgang-Staudte-Renaissance zu befördern.
Klaus Gietinger
Wolfgang Staudte: „… nachdenken, warum alles so war“. Hrsg. von Uschi Schmidt-Lenhard und Alf Gerlach. Mit Beiträgen von Alf Gerlach, Hans Giessen, Andreas Lenhard, Niels Daniel Peiler, Christine Pop, Helma Sanders-Brahms, Ralf Schenk, Uschi Schmidt-Lenhard, Wolfram Schütte und Siegfried Zepf. Schüren, Marburg 2017. 224 Seiten, 24,90 Euro