Die Relativierung der Unmöglichkeit
Eigentlich ist zum Thema Zeitreisen seit Robert Zemeckis’ großartiger Trilogie „Zurück in die Zukunft“ alles gesagt. Unterhaltsamer, turbulenter und überraschender als Marty McFly geht nicht. So dachte zumindest Anica Richter, bevor sie „Die Landkarte der Zeit“ von Félix J. Palma gelesen hat.
Panic On The Streets Of London
Englands Hauptstadt London kann, sowohl historisch als auch literaturgeschichtlich betrachtet, auf eine ganze Reihe denk- bzw. merkwürdiger Ereignisse zurückblicken.
So ließ H. G. Wells in seinem Roman „The Time Mashine“ seinen Zeitreisenden im viktorianischen London eine Zeitmaschine konstruieren, mit der er ins Jahr 802.701 reist, Bram Stoker beauftragte den unglückseligen Jonathan Harker, dem eher kalt- als blaublütigen Grafen Dracula ein Londoner Stadthaus zu vermitteln, und auch der oft kopierte, doch in seiner – im doppelbödigen Sinne – Unfassbarkeit nie erreichte Jack the Ripper erkor ausgerechnet das Londoner East End aus, um Prostituierte grausam zu ermorden.
Sich in diese populäre Ereigniskette einreihend, wählt Félix J. Palma nicht nur das am Ende des 19. Jahrhunderts stehende London als Schauplatz seines Romans, sondern stellt die Herren Wells und Stoker sowie den Ripper Jack auch seinen Romanhelden zur Seite.
Der junge Dandy Andrew Harrington darf als Erster feststellen, wie es sich anfühlt, mit einer nicht fiktionalen und eher humorlosen Gestalt wie Jack the Ripper aneinanderzugeraten. Bevor es jedoch soweit ist, verliebt sich der schnöselige Harrington in die Prostituierte Marie Kelly, ebenfalls eine Figur aus der realen Welt, die er auf Umwegen durch seinen Cousin Charles Winslow kennenlernt. Beide sind sich schnell einig, füreinander bestimmt zu sein, doch Andrew gelingt es nicht, über seinen elitären Schatten zu springen und seinem dominanten wie geschäftstüchtigen Vater (Palma lässt den Leser wissen, dass es William Harrington zu verdanken ist, dass es das sogenannte „hygienische Papier“, heute besser bekannt als Toilettenpapier, über den großen Teich nach Europa schaffte) seine Liebe zu einer Hure zu beichten. Diese rückradlose Zurückhaltung rächt sich, Andrews Geliebte Marie wird von Jack the Ripper brutal ermordet.
Doch keine Sorge, mit dieser Information hat die Rezension noch nicht zu viel verraten (außerdem ist das Schicksal Marie Kellys in einer Online-Enzyklopädie jedermann frei zugänglich), denn die Ripper-Morde stellen lediglich eine Episode auf dem Weg in Palmas Zeitreisen-Universum dar.
Let’s Do The Time Warp Again!
Die Frage, die sich nicht nur beim Lesen der „Landkarte der Zeit“ immer wieder aufdrängt, sondern im Kontext von Zeitreisen generell eine essentielle ist, muss eigentlich gar nicht gestellt werden, so nahe liegend ist sie:
Sind Zeitreisen tatsächlich möglich?
Da die Wissenschaft bis heute nichts Gegenteiliges bewiesen hat, ist die Antwort ebenso nahe liegend wie die Frage. Nein. Natürlich nicht.
Oder …
Vielleicht …
Doch! …?
Es ist genau diese Frage und es sind genau diese Antworten, die die Figuren in Palmas Roman bewegen. Da ist der verzweifelte Andrew Harrington, der alles tun würde, um Marie Kelly vor ihrem schrecklichen Schicksal zu bewahren. Da ist die naive Claire Haggerty, die Herz und Verstand in die Hände eines ihr unerreichbaren Mannes gelegt hat. Und da ist schließlich das Unternehmen „Zeitreisen Murray“, das verspricht, den so primitiven wie verständlichen Wunsch all dieser Menschen durch die Zeit zu reisen zu erfüllen. Eigentümer dieses Unternehmens und somit Organisator der Exkursionen durch die Zeit ist der geschäftstüchtige Gilliam Murray, der seine Gäste mit einer Art Straßenbahn namens Cronotilus, deren Name zwar eine Reminiszenz an Vernes bzw. Kapitän Nemos Meisterwerk der Meere, die Nautilus, darstellt, dem berühmten Vorreiter in Technik und Ausstattung jedoch nicht annährend das Wasser reichen kann, durch die vierte Dimension schleust, um immer wieder im Jahr 2000 anzukommen. Dort sind Menschen und Maschinen in einen endzeitlich anmutenden Kampf verwickelt, der in groben Zügen an die Drehbücher der „Matrix“-Triologie der großartigen Wachowski-Brüder erinnert.
Überflüssig zu sagen, dass die Beschreibung jener schönen neuen Welt förmlich dazu auffordert, die Möglichkeit des Unternehmens einer Zeitreise an sich zu negieren.
Nahe liegend. Verständlich. Gähn.
Aber …
Back In Time
In diesem Artikel sind nicht einmal ein Zehntel des Inhalts der „Landkarte der Zeit“ wiedergegeben, was zuallererst dem Vorhaben geschuldet ist, Félix J. Palma auf keinen Fall im Vorfeld in die inhaltliche Parade zu fahren. Denn das, was diesen Roman so besonders macht, ist nicht mit einer Beschreibung der Geschichte, der Figuren oder der schönen Sprache des Autors zu erklären, der jedoch trotzdem in diesem Nebensatz auf besondere Weise gehuldigt werden soll. Die eigentliche Meisterleistung Palmas liegt in seinem aufmerksamen Blick auf den Leser.
Selten hat man einen Schriftsteller klüger und unterhaltsamer mit der Erwartungshaltung seiner Leserschaft spielen sehen, die immer wieder von dem erhebenden Gefühl, Autor und Roman durchschaut zu haben, zu ungläubigen Ausrufen des Erstaunens getrieben wird. Und immer wieder ist da diese einzige Frage: Sind Zeitreisen möglich oder sind sie es nicht?
Wer eine Antwort will, sollte sich „Zurück in die Zukunft“ angucken.
Wer eine Vision will, sollte „Die Landkarte der Zeit“ lesen.
Anica Richter
Félix J. Palma: Die Landkarte der Zeit (El mapa del tiempo, 2008). Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Reinbek: Kindler Verlag 2010. 716 Seiten. 24,95 Euro.
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