Geschrieben am 1. April 2016 von für Bücher, Litmag

Erzählungen: Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe

Von trinkendelucia_berlin_was_ich_sonst_noch_verpasst_habe-9783716027424 (1)n Putzfrauen, Notaufnahmen und Nonnen

von Zoë Beck

Von Wiederentdeckung kann man bei Lucia Berlin kaum sprechen, zu ihren Lebzeiten hatte sie nur eine kleine, wenn auch erlesene Fangemeinde. Erst Jahre nach ihrem Tod schaffte sie es überraschend, wenngleich mehr als verdient, in die New York Times-Bestsellerliste und wurde von der Kritik mit Jubel aufgenommen. Vergleiche mit sämtlichen nordamerikanischen Größen (Carver, Munroe, etc.) der Kurzgeschichte wurden bemüht. Man spricht nun vom „bestgehüteten Geheimnis der amerikanischen Literatur“. Als hätte jemand sie versteckt, beschützt, dabei wurde sie nur schlicht von der großen Kritik und der breiten Masse ignoriert. Bis eben jetzt.

Es stimmt, dass sie eine grandiose Schriftstellerin war. Ich finde es allerdings schwierig, sie mit anderen vergleichen zu wollen, denn es würde sie klein machen. Lucia Berlin hatte ihre ganz unverwechselbar eigene Stimme, ihren ganz eigenen, klaren Blick auf unklare Umstände. Sie erzählt, stark autobiografisch geprägt, ohne ihre Autobiografie geschrieben zu haben.

A Manual For Cleaning Women heißt das Original, und die titelgebende Erzählung zeigt die Ich-Erzählerin in einer Situation, die die Autorin ihr Leben lang gut kannte: nämlich zwischen den Stühlen. Anders als die anderen Putzfrauen ist sie gut gebildet, stammt aus der Mittelschicht und gehört damit weder zu denen, die den gleichen Job wie sie machen, noch zu ihren Auftraggeberinnen, die einen ähnlichen Bildungsstand haben. Genau dadurch hat sie einen anderen Blick auf ihre Tätigkeit, und der ist ernüchternd, komisch, tragisch, erheiternd zugleich. Was ich sonst noch verpasst habe, der Titel der deutschen Ausgabe, zeigt die Ich-Erzählerin am Ende ihres Lebens, die zu dem Schluss kommt, ganz fatalistisch und doch irgendwie heiter, sie wäre immer genau dort angekommen, wo sie nun ist, ganz egal, wie sie sich entschieden hätte. Und doch bleibt die gewaltige, unmögliche Frage, was wohl verpasst wurde, was hätte sein können.

Es ist genau dieser Ton, der Lucia Berlins Geschichten so besonders macht. (Die Übersetzerin Antje Rávic Strubel holt den Ton der Autorin übrigens wunderbar ins Deutsche.) Dieses dem Schicksal Ergebene, dieses Beiläufige, selbst wenn die Dinge tragisch und schmerzhaft sind. So erzählt sie von einer nicht durchgeführten Abtreibung, von Aufenthalten in der Entzugsklinik, von der Arbeit in der Notaufnahme, von der krebskranken Schwester oder von der katholischen Mädchenschule, von der schmerzhaften Skoliose, den Problemen alleinerziehender Mütter, den Stationen in El Paso, in Chile, in Albuquerque und vielen anderen Orten, von Menschen in Waschsalons und Großvätern, die ihre Enkeltöchter auf die falsche Art lieben.

Die Protagonistinnen gehören nie wirklich irgendwo dazu, bleiben Außenseiterinnen, die an mehr als nur einer Front im Alltag kämpfen müssen, treiben trotzdem zusammen mit den anderen Figuren durch das Leben, beobachten das, was geschieht, auch was mit ihnen selbst geschieht, womöglich schärfer, als es ihnen selbst bewusst ist. Sie sind unzufrieden, unbescheiden, unbeherrscht, dann wieder versöhnlich, liebend, großzügig.

Die Erzählungen enden nicht mit Pointen, sie lassen offen, wie es weitergeht, vielleicht weil das Leben nun mal auch offen lässt, wie es weitergeht. Es ist spannend zu sehen, wie manche Erzählungen aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, andere in der personalen Erzählsituation, was die interpretatorische Frage aufdrängt, ob die Autorin bei manchen Geschichten mehr Distanz wollte – oder einfach mehr Distanz hatte.

Manual-For-Cleaning-Women-Lucia-BerlinIn einem Gespräch zwischen mir und Gerwig Epkes auf SWR2 kam die Frage auf, ob sich nicht zu vieles thematisch wiederholen würde, was mich dazu brachte, diesen Eindruck auf die Reihenfolge der Geschichten in der deutschsprachigen Ausgabe zurückzuführen. Ich hatte zunächst das Original gelesen, und natürlich gibt es wiederkehrende Motive und Themen, aber die gewählte Reihung lässt genügend Raum. In der deutschsprachigen Ausgabe wurde sich nun für eine andere Abfolge entschieden, und meinem ersten Verdacht, dies sei ein Versuch, sich an der Biografie der Autorin zu orientieren, begegnet die Übersetzerin wie folgt:

„Die Reihenfolge, für die ich mich in Abstimmung mit der Verlegerin von Arche entschieden habe, stellt eine erzählerische Klammer her (keine autobiografische). Eine Erzählerin erhebt ihre Stimme: ‚Warten Sie. Lassen Sie mich erklären …‘ Sie etabliert ein Ich, das im Laufe der Texte immer wieder mehr oder weniger aufscheint. Der Erzählband endet mit einer Geschichte in der Ich-Perspektive und mit der Feststellung, offenbar jede Menge verpasst zu haben (demzufolge auch jede Menge unerzählt gelassen zu haben).
Das ist für mich ein poetologisch-erzählerischer Ansatz. Keinesfalls und gar kein autobiografischer. Es beginnt auch nicht mit der Kindheit, sondern mit dem Alter. Es wird auf ein erzählerisches Werk zurückgegriffen (‚Lassen Sie mich erklären …‘) – und das korrespondiert für mich mit der Herausgabe eines Werks, es ist also kein beliebiger autobiografischer Anfang in dem Sinne von: wie es war als Kind. Mit dem Thema Alter und bevorstehendem Tod endet das Buch, auch das hat eine Logik, da die Autorin, deren Werk hier vorgestellt wird, tot ist.
Im Ganzen werden mithilfe dieser Reihenfolge thematische Schwerpunkte gesetzt, da haben Sie recht. Kindheit als Thema, Abhängigkeit und Sucht als Thema, Sterben und Tod als Thema. Das alles folgt aber weder dem Leben Lucias selbst, noch irgendeiner Chronologie, in der die Geschichten entstanden sind (von vielen wissen wir gar nicht genau, wann sie entstanden sind).“

Thematische Schwerpunkte, in der Tat, die beim Durchlesen der Geschichten von vorn nach hinten eben diesen Eindruck von Doppelungen entstehen lassen können, mein einziger Kritikpunkt an dem Erzählband, bei allem Verständnis für diese Anordnung. Gerade bei diesen Geschichten möchte ich deshalb dazu anregen, durcheinanderzulesen, zu springen, zu blättern.

Es ist, da wiederhole ich mich gern, eine großartige Sammlung von einer hochtalentierten, wunderbaren Autorin, die in diesem Jahr achtzig geworden wäre.

Zoë Beck

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe. Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel. Arche: Februar 2016. Hardcover 22,99 Euro. eBook 17,99 Euro.

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