Geschrieben am 3. Mai 2016 von für Bücher, Litmag, News

Erzählungen: Benjamin Alire Sáenz: Alles Beginnt und endet im Kentucky Club.

Saenz Kentucky ClubGeschichten einer Grenze: USA – Mexiko

– Sieben großartige Erzählungen voller Schmerz und Poesie, angesiedelt zwischen zwei Welten an der Grenze der USA zu Mexiko, enthält der Band „Alles Beginnt und endet im Kentucky Club“ von Benjamin Alire Sáenz (*1954, New Mexico). Die meisten Erzählungen spielen in den durch den Rio Grande bzw. Río Bravo del Norte geteilten Grenzstädten El Paso und Ciudad Juárez. Von Doris Wieser.

2007 begannen die USA mit dem Bau einer Mauer entlang der Grenze zu Mexiko. Die Mexico–United States barrier soll illegale Migration verhindern und den Drogenhandel reduzieren, tut sie aber nicht. Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich. Etwa zur selben Zeit, mit Beginn der Amtszeit von Felipe Calderón, nahm der Drogenkrieg in Mexiko neue Ausmaße an und verwandelte Ciudad Juárez in eine der gefährlichsten Städte der Welt.

In den Erzählungen geht es jedoch nur im Hintergrund um diese raue Wirklichkeit. Viel wichtiger ist dem Autor die charakterliche Feinzeichnung seiner Figuren, die zwischen mehreren Identitäten gespalten sind und doch eins mit sich sein wollen. Die schwierige Suche nach einer eigenen Identität im Spannungsfeld zweier Kulturen und Nationalstaaten verdeutlicht er geschickt anhand von Coming-of-Age-Geschichten, in denen sich die stets männlichen Ich-Erzähler von ihren Eltern und Verwandten allmählich abnabeln und zu einer, wenn auch schmerzhaften, Affirmation ihrer eigenen Persönlichkeit gelangen. Sie leben und erleiden sogenannte Bindestrichidentitäten.  Wie schon Gloria Anzaldúa 1987 in ihrer Essaysammlung „Borderlands/La Frontera: The New Mestiza“ eindrucksvoll geschildert  hat, fühlen sie sich als  hyphenated Americans, im konkreten Fall Mexican-Americans, oder Chicanos, gespalten zwischen dem Zugehörigkeitsgefühl zu der einen oder der anderen Kultur sowie der einen oder der anderen Sprache.

„Sie sind kein richtiger Mexikaner“, sagte er.
„Kein Mexikaner. Kein Amerikaner. Scheiß drauf! Das ist die Krankheit, an der ich leide“ (S. 10).

Dass die meisten Figuren zusätzlich homosexuell sind, erschwert ihre Identitätssuche in einer Welt, in der seit der kolonialen Expansion Europas dieselbe Logik fortbesteht: Menschen werden nach „Rasse“, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion und sozialer Schicht in Kategorien eingeteilt und bewertet. Die epistemische Gewalt dieser Ordnung wird dort besonders deutlich, wo sich zwei oder mehr Kategorien überschneiden. Intersektionalität meint doppelte Unterdrückung und in der Folge doppelte Unsichtbarkeit der betroffenen Individuen, deren bloße Existenz den hehren westlichen Menschenrechtsdiskurs Lügen straft. So leiden auch die Figuren von Benjamin Alire Sáenz unter Xenophobie sowie Homophobie. Da ist ein Vater, der seinen Sohn krankenhausreif schlägt, als er herausfindet, dass er homosexuell ist, und ein anderer Vater, der einen seiner Söhne aus ebendemselben Grund verjagt. Und da sind weiße Jugendliche, die einem Mexican-American Hassparolen mit dem Messer in den Rücken schnitzen.

Und als wäre dem nicht genug, leben sie alle in einer Gegend, die wegen ihrer extrem hohen Kriminalitätsrate berühmt-berüchtigt ist. Morde (insbesondere Frauenmorde), Drogenhandel und wirtschaftliche Ausbeutung der sozial Schwächeren sind dort Alltag. Angst beherrscht die Figuren, die dennoch immer wieder die Fußgängerbrücke von El Paso nach der mit vielen Sehnsüchten verknüpften Nachbarstadt Ciudad Juárez überqueren, um im berühmten Kentucky Club etwas zu trinken. Dass Javier, der eine Beziehung zu einem Chicano-Schriftsteller aus El Paso führt, von einem Tag auf den anderen verschwindet, ist für die Behörden in Ciudad Juárez kein Grund, eine ernsthafte Ermittlung einzuleiten.

Die Protagonisten der Erzählungen sind Männer, die jedoch – um mit R.W. Connell zu sprechen – weder ein hegemoniales Modell von Männlichkeit verfolgen, noch als komplizenhafte Trittbrettfahrer des Patriarchats auftreten. Sie stehen vielmehr für eine einerseits „rassisch“ marginalisierte Männlichkeit und zusätzlich für die untergeordnete Männlichkeit von Schwulen. Gerade die Ziselierung dieser Männlichkeitsprojekte macht das Buch besonders wertvoll und geradezu unvergessen. Keine langweiligen Machos bevölkern die Geschichten, sondern verletzliche, unsichere Charaktere. Schuljungen, die Prügeleien aus dem Weg gehen, weil sie anderen nicht wehtun wollen. Junge Erwachsene, die als Kinder missbraucht wurden oder nie elterlich Liebe erfahren haben, und jetzt versuchen, ihre Wunden zu versorgen. Männer, die zärtlich zueinander sind und füreinander sorgen. Männer, die weinen und nicht zu stolz sind, von Liebe zu sprechen. Schwule Männer, die am liebsten einfach nur ihr Leben leben und glücklich sein würden. Ihre Verletzlichkeit macht sie auch empathisch für andere soziale Unterdrückungsmechanismen, beispielsweise der Frauen, und damit bereit solidarisch zu handeln:

„Mädchen kamen immer im Rudel [zu den Partys am Fluss]. Zur Sicherheit. So sah ich das. Und es machte mich traurig. Mir vorzustellen, dass sie sich schützen mussten. Vor Kerlen wie uns“ (S. 142).

Und noch etwas bewegt sie: Die Liebe zu ihrer Heimat, zur Wüste, zu Ciudad Juárez. Obwohl die Gegend immer unwirtlicher wird, gibt es Menschen, die sie nicht verlassen wollen, weil sie sich mit ihr verbunden fühlen. Denn was sie auf der anderen Seite des Flusses bzw. der Mauer erwartet, ist auch nicht gerade einfach:

„Dies ist Amerika, das glückverheißende Land, und wir waren aus Mexiko gekommen, dem tragischsten Land der Welt. Das einzige Gefühl, das von mir – und solchen wie mir – erwartet wurde, war Dankbarkeit“ (S. 44).

Benjamin Alire Sáenz bietet tiefe Einsichten ins Menschsein. Seine ungewöhnlich genaue Beobachtungsgabe führt uns an die Verletzungen der Benachteiligten und Diskriminierten heran und lässt uns Teil davon werden. Zwischen den Zeilen schwingt immer wieder seine Kritik an der kapitalistischen, neokolonialen, patriarchalen und heteronormativen Weltordnung mit, denn: Warum um alles in der Welt sollten die Mexikaner den Amerikanern dankbar sein?

Carlos Fuentes veröffentlichte bereits 1995 mit „Die gläserne Grenze“ einen Erzählband über die mexikanisch-amerikanischen Borderlands, mit dem er hohe Maßstäbe setzte. Aber Benjamin Alire Sáenz steht diesem Großkaliber in nichts nach. „Alles beginnt und endet im Kentucky Club“ ist ein Meisterwerk an Feinfühligkeit, man möchte fast sagen an Menschenfreundlichkeit. Sprachlich sind die Erzählungen in ihrer Einfachheit und Klarheit ein poetischer Hochgenuss. Stilistisch immer wieder zugespitzt auf gefühlvolle und gedanklich dichte Sequenzen zeigen sie Menschen, die aus der Opferrolle heraustreten und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Dass sich der Band so wunderbar liest ist auch der stimmigen Übersetzung Sabine Hedingers zu verdanken!

Doris Wieser

Benjamin Alire Sáenz: Alles Beginnt und endet im Kentucky Club. Erzählungen. (Everything begins and ends at the Kentucky Club, 2012). Aus dem Englischen von Sabine Hedinger. Berlin: Ripperger & Kremers, 2014. 237 Seiten. 18,90 Euro.

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