Geschrieben am 16. März 2011 von für Bücher, Litmag

Ernst Burger: Franz Liszt: Die Jahre in Rom und Tivoli

Die italienischen Jahre des Tasten-Zauberers

– Rechtzeitig zum Liszt-Jahr (200. Geburtstag) erscheint die großartige, opulent illustrierte Chronik von Ernst Burger über Franz Liszts Zeit in Rom und Tivoli. Peter Münder ist begeistert.

Kein anderer Künstler des 19. Jahrhunderts wurde so umschwärmt und verehrt, so häufig porträtiert und „büstiert“, niemand sonst hat das begeisterte Publikum in seiner Verehrung  dazu gebracht, den Geniekult so exzessiv auf die Spitze zu treiben wie Franz Liszt (1811–1886).  Seine Konzertreisen quer durch Europa glichen Triumphzügen, die meisten Komponisten-Kollegen (von Schumann bis Wagner) berauschten sich an seinen kristallklaren, rasanten, hammerharten und zugleich betörend zarten, romantischen Kompositionen oder an den für das Klavier bearbeiteten Symphonien von Beethoven und anderen.

Franz Liszt war ein genialer Workaholic, aber auch ein begeisterter Lehrer und großzügiger Mäzen, der mit seinen Auftritten bei Wohltätigkeitskonzerten immer bereit war, irgendeine Misere zu lindern. In seinem Reisepass von 1840 (damals natürlich noch ohne Foto) gab es in der Rubrik „Besondere Merkmale“ nur den Hinweis „Celebritate sua sat notus“ („Durch seine Berühmtheit hinreichend bekannt“). Der einzige Komponist und Pianist, der sich neben Liszt als halbwegs ernst zunehmender Rivale behaupten konnte, war der „Dreihand-Pianist“ Sigismund Thalberg (1812–1871, „Florinda“), den Liszt erst in einer ätzenden Kritik (in der Revue et Gazette musicale) verhöhnte und dann 1837 zu einem „Pianisten-Duell“ im Salon der Prinzessin Belgiojoso herausforderte, das der dämonische Virtuose Liszt, dieser Paganini der Tasten, natürlich für sich entschied. Thalbergs Masche bestand in einer Art Dreihandtechnik: Die Daumen gaben auf den mittleren Tasten ein Thema vor, das dann von beiden Händen aufgenommen und variiert wurde, was Liszt als effekthascherischen Humbug empfand.

Franz Liszt 1832, Lithografie von Devéria.

Aber war dieser angehimmelte Frauenschwarm mit dem feurigen Blick und dem güldenen Teint, von der Öffentlichkeit meistens als exzentrisches Genie wahrgenommen, überhaupt richtig einzuschätzen? Liszt war ja meistens von wohlhabenden Aristokraten umgeben und von attraktiven Upper-Class-Ladies verehrt worden. In Paris war er – wie eigentlich überall – „der begehrteste Mann der Stadt“. Da kam es schon mal vor, dass sich eine Amerikanerin nach einem Konzert das Sitzpolster griff, auf dem Liszt gesessen hatte, um es einzurahmen und an die Wand zu nageln. Ausgeflippte Groupies mit Hang zum exzessiven Personenkult gab es eben schon lange vor den Beatles oder Elvis. Aber wie passte dann seine in Italien einsetzende klerikale Phase zu diesem Erscheinungsbild? War das Genie vielleicht doch nur ein versierter Rollenspieler, das sich in interessante Posen flüchtete?

Die meisten Besucher, die Liszt in seinen kargen Quartieren in Tivoli empfing, beschrieben immer wieder ihre Verwirrung und Verblüffung über diesen ehemaligen Hedonisten, der früher im Luxus schwelgte und sich nun, nach dem Empfang kirchlicher Weihen während seiner insgesamt 25 italienischen Jahre, nur noch demütig und in spartanisch-asketischen Verhältnissen lebend im Abbé-Gewand zeigte – war das wirklich der „echte“ Liszt? Wollte er sich vielleicht nur interessant machen, weil er nicht mehr für Skandale und aufregenden Klatsch sorgte? Wollte er etwa mit einem theatralischen Gestus für Wirbel sorgen, ähnlich wie Alkibiades, der seinem Hund den Schwanz abhackte, nur um wieder ins Gespräch zu kommen?

Grandioser Bildband

Liszt im Alter

Diesen so unterschiedlichen Phasen während Liszts Aufenthalt in Rom und Tivoli geht der Münchener Pianist und Autor Ernst Burger, 74, in seinem grandiosen Bildband nach. Burger ist spezialisiert auf monumentale Dokumentar-Biografien, die seltene Bilder und historische Fotos zeigen, Manuskripte und Briefe reproduzieren und zudem noch eine CD enthalten. Für seine Bände über Chopin, Schumann und den Jazzpianisten Erroll Garner wurde Burger hochgelobt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Dies ist nun schon sein drittes Buch über Liszt; es ist zweifellos ebenso preiswürdig wie die Vorläufer.

Selbst für versierte Liszt-Kenner hat Burger viele bisher unbekannte biografische Details zu bieten – dazu gehören vor allem die hier beschriebenen Episoden aus den italienischen Jahren. Der Biograf möchte auch das immer noch verbreitete Zerrbild vom lasziven, egomanischen Bohemien Liszt korrigieren. Mit vielen Zeitdokumenten, Briefpassagen und zeitgenössischen Zitaten möchte Burger belegen, dass Liszt eben auch ein durchaus selbstloser, hilfsbereiter Mäzen sein konnte, der mit stark beachteten Benefizkonzerten bereitwillig eine Menge Geld in die Kassen der Spendensammler spülte.

Auch die Berichte seiner dankbaren Schüler zeigen Liszt als selbstlos-gütigen, hilfsbereiten und sogar demütigen Virtuosen, der seinen Schützlingen kaum einen Wunsch abschlägt. Zum Samariter-Image passt dann auch die anspruchslose, bescheidene Art des Meisters: In Weimar dinierte er noch hochherrschaftlich bei der Fürstin Wittgenstein, in Rom erlebten die Liszt-Schüler ihren Lehrer aber als Konsumenten von Büchsenfleisch – tempora mutantur!

Diese Image-Korrektur gerät im Buch vielleicht zu sehr in den Mittelpunkt, doch sie wird überzeugend präsentiert und ist aufgrund der erlittenen Schicksalsschläge des Meisters – der frühe Tod der Kinder Blandine und Daniel, die gescheiterten Liebesbeziehungen – auch plausibel. Burger kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass Liszt keineswegs posierte, sondern sich in seinen späten Jahren einfach nur „nach einem ruhigen Hafen“ sehnte.

Frauenschwarm Liszt – kein Schürzenjäger

Auch der Liszt-Schüler August Stradal  hielt seinen Lehrer keineswegs für einen in viele Affären verstrickten Schürzenjäger. Burger lässt ihn mit seinen Einschätzungen ausführlich zu Wort kommen: „Was nun Liszt und die Weiblichkeit anbelangt, … so ist meine Meinung, dass Liszt wohl von dem weiblichen Geschlecht geliebt wurde, dass er aber eigentlich nur seine Kunst liebte … Legenden erzählen, dass Liszt ein Don Juan gewesen sei, was aber völlig irrig ist, da er nie in Liebesaffären die Initiative ergriff. Wie hätte er die erstaunliche Zahl seiner Werke erreichen können, wenn er sich aus eigenem Drang in Liebesverhältnisse gestürzt hätte! Zum Don Juan gehört ein Bummlerleben und eine Portion Dummheit!“

Marie d’Agoult 1843, Ölgemälde von Henri Lehmann

Der Frauenschwarm Liszt hatte sich 1833 in die sechs Jahre ältere, verheiratete Gräfin Marie d’Agoult verliebt, die im Mai 1935 ihren Ehemann verließ und mit Liszt nach Genf durchbrannte, wo beide anderthalb Jahre zusammenlebten. Dort wird auch ihre Tochter Blandine (1835–1862), das erste von drei Kindern, geboren. Die 1837 geborene Cosima heiratet später Richard Wagner, der hochtalentierte Sohn Daniel (1839–1859) wächst jahrelang ohne seine Eltern bei einer Amme in Palestrina auf, besucht eine Schule in Paris, wo er Preise für Geschichte, Latein und Rhetorik gewinnt. In Wien beginnt er ein Jura-Studium, dann fängt er während eines Berlin-Besuchs überraschend an, Blut zu husten, und stirbt plötzlich – kaum zwanzigjährig. Für Liszt war dies, wie Burger schreibt, „der größte Schmerz seines Lebens“.

Als Franz Liszt 1839 für fünf Monate nach Rom reiste, wollte er sich dort von den Strapazen seiner aufreibenden Konzert-Tourneen erholen und sich vor allem auf das Komponieren konzentrieren. Seine neue Rolle als Familienvater behagte dem exzentrischen Genie jedoch überhaupt nicht – die Missstimmungen und Auseinandersetzungen mit Marie d’Agoult häufen sich. Er flüchtet sich in die Arbeit, schreibt rund fünfhundert Seiten Klaviermusik, gibt einige Konzerte und ist von Rom sehr enttäuscht: Die Oper fasziniert das Publikum wesentlich stärker als Symphonien oder Klavierkonzerte, der Charme des antiken Rom ist kaum noch erkennbar, die sakrale Musik ist in einem desolaten Zustand. Liszt möchte die mediokre, langweilige italienische Kirchenmusik reformieren, stößt aber schnell an seine Grenzen und gibt den Versuch bald auf.

Burger zitiert aus einem Brief an Adolphe Pictet: „Das Rom Caesars und Neros (dieses großen Künstlers!) finde ich grandios, imposant, so armselig ich das katholische Rom finde, trotz des Petersdomes, den ich gar nicht liebe, und seiner Kirchen, die aus Diebstählen an alten Tempeln und Basiliken aufgebaut sind. Wahrhaftig, diese Christen sind schamlose Diebe!“ Trotzdem verkehrt Liszt intensiv mit diesen „schamlosen Dieben“: Er ist befreundet mit Papst Pius IX., der ihn später in Madonna del Rosario besucht. Liszt begeistert sich für Palestrinas sakrale Kompositionen und scheint nach dem Empfang der niederen Weihen selbst zum klerikalen Umfeld zu gehören – jedenfalls wird er nun von den Einheimischen meistens als Abbé bezeichnet.

Genau gezeichneter gesellschaftlich-historischer Rahmen

Carolyne zu Sayn-Wittgenstein mit ihrer Tochter Marie. Um 1840

Als Liszt dann 1861 – lange nach seiner Trennung von Marie d’Agoult – in Rom eintrifft, wird er von der nicht sehr attraktiven, aber charismatischen Carolyne Fürstin von Sayn-Wittgenstein begleitet. Das Paar will unbedingt am 50. Geburtstag Liszts heiraten, muss aber erst eine langwierige Bürokratentortur zur Annullierung der Ehe über sich ergehen lassen, weil die Fürstin trotz ihrer Trennung vom calvinistischen Fürsten Nikolaus von Sayn-Wittgenstein (1812–1864) nach katholischem Recht immer noch verheiratet war. Als die mit großem Pomp arrangierte kirchliche Trauung schließlich vollzogen werden soll, wird das Vorhaben von ihren frustrierten Verwandten noch im letzten Moment verhindert, weil sie befürchteten, vom riesigen Erbe der Fürstin ausgeschlossen zu werden. Das Paar lebt trotz des Hochzeitsfiaskos zusammen und gehört bald zum gesellschaftlichen Mittelpunkt in Rom.

Der Pianist und Musikexperte Burger will mit seinem prächtigen Bildband kein klinisches  Psychogramm des genialen Virtuosen Liszt liefern. Ihn fasziniert der gesellschaftlich-historische Rahmen, das Ambiente, in dem sich Liszt damals bewegte, und vor allem die  Stadtviertel und Unterkünfte, in denen Liszt lebte. All das charakterisiert dieser Ausnahme-Biograf in diesem bewundernswerten, ästhetisch äußerst ansprechenden Band so akribisch und einfühlsam, dass man als Leser eigentlich immer den Eindruck hat, mitten drin zu sein in Rom und Tivoli zu der Zeit von Franz Liszt.

Übrigens outet sich der Schubert-, Mozart- und Beethoven-Spezialist Alfred Brendel  in seinem Vorwort und auf der im Band enthaltenen Liszt-CD ebenfalls als Liszt-Bewunderer: „Natürlich war Liszt kein Heiliger“, wird Brendel im Klappentext zitiert, „dennoch gibt es keinen Komponisten, dem ich lieber begegnet wäre.“

Keine Frage, im CULTurMAG-Jahresrückblick werde ich diesen fabelhaften Band von Burger auf jeden Fall in die Highlight-Liste aufnehmen!

Peter Münder

Ernst Burger: Franz Liszt: Die Jahre in Rom und Tivoli. Mainz: Schott Verlag. 232 Seiten. Üppig illustriert nebst einer CD (Alfred Brendel spielt Klavierwerke von Franz Liszt). 49,95 Euro. Franz Liszt bei Wikipedia. Eine Reihe von Aufnahmen finden Sie hier.