Geschrieben am 17. April 2010 von für Bücher, Crimemag

Ernesto Mallo: Der Tote von der Plaza Once

Moralische Integrität während einer Diktatur?

Argentinien, das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, ist seit Jorge Luis Borges Zeiten Garant für spannende Kriminalliteratur. Aber Gastland bei der Messe zu sein, führt auch dazu, dass Werke übersetzt – und übersetzungsgefördert werden, die man ansonsten vielleicht skeptischer betrachtet hätte. Doris Wieser ist auf so einen Fall gestoßen.

Ein Kriminalroman, der während der argentinischen Militärdiktatur Ende der 1970er spielt, mit einem moralisch integren Comisario der Staatspolizei als Protagonisten – wie soll das gehen? Ein solches Setting erwartet man mit gewisser Spannung, da sich der Autor damit eine Aufgabe gestellt hat, die einige Fallstricke birgt. Wie kann man in dieser Atmosphäre überzeugend eine Figur erschaffen, die Teil des Staatsapparats ist, dort ihre Pflichten erfüllt und trotzdem nicht zum Handlanger der institutionalisierten Gewalt wird, das heißt sich an Mord und Folter schuldig macht?

Ernesto Mallo (La Plata, 1948) gelingt dieses schwierige Unterfangen in Der Tote von der Plaza Once nicht so ganz. Der jüngst verwitwete Comisario Lascano wird zum Fundort zweier Leichen bestellt. Als er dort ankommt, findet er jedoch drei Tote. Schnell und zweifelsfrei erkennt er, dass zwei davon Dissidenten sind, die die Armee aus dem Weg geräumt hat, der dritte aber mit dieser Sache nichts zu tun hat. Er ist deutlich älter, die Tötungsart eine völlig andere. Da die politischen Morde nicht in seinen Aufgabenbereich fallen, ermittelt Lascano nur im Fall des dritten Toten, dessen Geschichte allerdings nichts mit der politischen Situation zu tun hat, bestenfalls mit der wirtschaftlichen. Das verwundert und enttäuscht vor allem deswegen, weil der Roman so vehement mit dem Schlagwort „Militärdiktatur“ beworben wird. Der Kern der Geschichte liegt aber woanders.

Schnell, erwartbar, simpel

Ernesto Mallo

Schnell, allzu schnell, findet Lascano heraus, dass der Tote ein jüdischer Geldverleiher war, bei dem ein verarmter Großgrundbesitzer tief in den Schulden stand. Da werden Klischees wieder aufgewärmt, die kaum durch relativierende Elemente in eine gesunde Balance gebracht werden. Die Situation des Abkömmlings der Landoligarchie, der prahlerisch sein Geld verschleudert, wird so unscharf mit der konkreten politischen Situation in Verbindung gebracht, dass sie im Prinzip auch in einem anderen Jahrhundert spielen könnte.

Ernesto Mallo verzahnt die Ermittlungsarbeit mit weiteren Handlungssträngen, die im Kontext der argentinischen Militärdiktatur irgendwie erwartbar sind … vielleicht allzu erwartbar. Comisario Lascano nimmt nach einer Razzia eine junge Frau mit zu sich nach Hause, eine Guerillakämpferin, die seine Männer übersehen haben. Zufälligerweise ähnelt sie ungemein seiner verstorbenen Frau, was gemischte Gefühle in ihm hervorruft und ihn in einen inneren Konflikt bringt, den der Autor hauptsächlich in Bezug aufs Private, Intime ausarbeitet, während er seine politischen Implikationen nur anreißt. Auch die konkrete Gefahr, der sich Lascano aussetzt, indem er eine Subversive bei sich aufnimmt, bleibt in schemenhafter Ferne

Dazu kommt das Psychodrama um die Frau eines Militärs. Da sie selbst keine Kinder bekommen kann, arrangiert ihr Mann die Adoption des Babys einer „verschwundenen“ Dissidentin. Die Militärsfrau leidet daraufhin an Gewissensbissen und fantasiert, das Kind würde sie hassen. Doch ein Priester löst das Problem auf wundersame Weise in einem einzigen seelsorgerischen Gespräch … allzu simpel.

Die Nadel im Heuhaufen

Gegen Ende gewinnt der Roman dann doch noch an Fahrt und Aussagekraft, da er einen Mechanismus aufzeigt, der aus repressiven Gewaltregimes bekannt ist. Hohe Kader erhalten quasi einen Freibrief, alle unliebsamen Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen. Und da ist es nicht verwunderlich, dass der eine oder andere Machthaber unter den politischen Morden auch zivile versteckt und am Ende alle Mitwisser exekutieren lässt, um seine eigene Haut zu retten.

Nun, was sagt uns das über die argentinische Militärdiktatur? Eigentlich nur, dass es da eben auch so war. Über die konkreten politischen oder ideologischen Hintergründe schweigt sich der Roman jedoch aus. Das Gemetzel am Ende ist Folge des zivilen Mordes. Lascanos erwartbares Dilemma zwischen dem moralisch guten Handeln und dem befolgen von Befehlen bleibt ein Nebenkriegsschauplatz. Und das alles wäre noch okay, wenn der Roman einen ästhetischen Mehrwert besäße. Aber viele Dialoge sind schlicht banal; wirklich lesenswerte Sätze muss man wie „die Nadel im Heuhaufen“ suchen (so der spanische Originaltitel wörtlich). Die Erzählperspektive springt ziemlich unmotiviert zwischen Lascano, der jungen Guerillakämpferin, dem Opfer, dem Täter und seinem militärischen Protektor hin und her, wie es dem Autor gerade einfällt.

Alles in allem ist Der Tote von der Plaza Once ein Roman, den die Welt zwar nicht unbedingt gebraucht hätte, der einen aber auch nicht wirklich ärgert, sondern bestenfalls ab und an gähnen lässt. Auf dem Einband liest man, dass er den Auftakt zu einer Serie bildet, „in der sich unterschiedliche Epochen der argentinischen Geschichte spiegeln“. Na dann, mal weiter! Es sei jedem Autor vergönnt, sich nach und nach einzuüben.

Leseprobe

Doris Wieser

Ernesto Mallo: Der Tote von der Plaza Once (La aguja en el pajar, 2006).
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Berlin: Aufbau Verlag 2010. 19,95 Euro.

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