Vorwärts in die Vergangenheit
Emma Braslavskis Roman ist äußerst vielschichtig, vor allem im Umgang mit dem stets von einem Hauch des Revisionismus umgebenen Thema Vertreibung.
Ein Werk des Teufels – so urteilt der Erfurter Pfarrer, als 1969 die Domuhr explodiert und von den Ziffern ausgerechnet die Sieben verschwunden ist. Ein offenbar verwirrter junger Mann, barfuss und ohne Papiere, wird in der Nähe aufgefunden, doch ein Verhör erweist sich als vollkommen sinnlos. Der phantastisch anmutende Beginn des Debütromans der 1971 in Erfurt geborenen Emma Braslavski weckt Assoziationen zum Science Fiction-Klassiker Zurück in die Zukunft, in dem der Blitzeinschlag in eine Rathausuhr zentraler Angelpunkt der Story ist.
Doch Emma Braslavski erzählt keinesfalls eine Zeitreisegeschichte, der namenlose Unbekannte ist kein Gestrandeter aus der Zukunft, sondern Opfer einer perfiden Umerziehungsmaßnahme. Dieses Rätsel wird sich jedoch erst zum Ende des Romans auflösen, der nach dem kurzen Prolog zum Neujahrsmorgen des Jahres 1969 zurückspringt und uns sein Protagonisten vorstellt. In einem stickigen Erfurter Studentenkeller feiern die ANSen, eine sudetendeutsche Gruppierung, Silvester. Unter ihnen Eduard, der eher zurückhaltende Mathematiker und Zeitpedant, sowie sein Kindheitsfreund Paul, ein aufbrausender sudetendeutscher Aktivist. Paul plant die Beteiligung an einer sudetendeutschen Demonstration im sowjetisch besetzten Prag, während sich Eduard von seinem Freund loszulösen beginnt und sich zur musizierenden Konsum-Filialleiterin Anna hingezogen fühlt. Die Demonstration in Prag endet tragisch und auch Annas Teilnahme an einem Musikwettbewerb nimmt nicht den erhofften Verlauf.
Äußerst Vielschichtig
Emma Braslavskis Roman ist äußerst vielschichtig, vor allem im Umgang mit dem stets von einem Hauch des Revisionismus umgebenen Thema Vertreibung. Hier gibt es keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern mannigfaltige Nuancen in den Charakteren. Und sie geht weit über die Vertriebenenproblematik hinaus. Unter den Vertriebenen gibt es klare Trennlinien zwischen Katholiken und Protestanten – auch wenn man insgeheim dem anderen zugesteht „die sind ja auch Menschen“. Rückblenden in die Zeit vor der Vertreibung zeigen Pauls Vater, einen einflussreichen SED-ler, als ebenso strammen Nazi. Und so erzählt Emma Braslavski nicht allein vom Schicksal der Sudetendeutschen, die sich auf eine gefahrvolle Flucht in den Westen machen müssen und dabei zumeist alles verlieren, sondern auch von der kleinen Jüdin Miri, die sich lange in den Hinterhöfen verstecken kann und schließlich doch verraten wird.
Natürlich haftet dieser erzählerischen Vielschichtigkeit, dem Anprangern von alten und neuen Nazis, Stasi und Wendehälsen die Anmutung politisch korrekter Ausgewogenheit an. Doch die Autorin präsentiert ihre Geschichte unaufgeregt, ohne besondere Anstrengung oder spürbarer Gekünsteltheit. Durch eine tragische Liebesgeschichte und eine Unmenge ebenso liebenswerter wie skurriler Charaktere, vermag sie zudem auch nur die Andeutung eines erhobenen Zeigefingers mit Humor zu umschiffen.
Zu einem Sujet, das nicht erst seit Grass’ Im Krebsgang nahezu inflationär den deutschsprachigen Buchmarkt beeinflusst, hat diese junge Autorin einen originellen Zugang gefunden und ein beachtliches Debüt vorgelegt.
Frank Schorneck
Emma Braslavsky: Aus dem Sinn. Claassen 2007. 362 Seiten. 19.95 Euro.