Geschrieben am 1. Dezember 2010 von für Bücher, Litmag

Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen

Einladung angenommen

– Ein Erfahrungsbericht zu Dorothee Elmigers Debütroman „Einladung an die Waghalsigen“ mit einem Versuch, sie zu verstehen.

Zwei Schwestern machen sich in einem Endzeitgebiet, unter dem seit Jugendgedenken ein Grubenfeuer glüht, auf die Suche nach einem vielleicht nicht existierenden Fluss, nach ihrer Geschichte und ihrer möglichen Zukunft. Für mich ist es auch eine Beschreibung der Gegenwart. Von Charlotte von Bausznern

An einem Dienstag, vielleicht, erreicht mich per Post endlich ein Band in dritter (!) Auflage, dessen Titel trotz seiner Jugend bereits altbekannt in den Feuilletons ist: Es ist die Einladung an die Waghalsigen. Ich bin etwas unsicher, ob ich mich zu den Waghalsigen zählen soll. Egal. Ich betrieb Recherche. Ich umkreise in langsamen, schrittweisen Erkundungstouren durch das wüste Land der wundersamen literarischen Welt die Autorin.

Expedition ins Trockene

Ich treffe Dorothee Elmiger bei einer Veranstaltung zur deutsch-schweizerischen Verständigung, der Präsentation dreier prominenter Autoren der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Im Lesesaal liegt ein feiner Geruch von Fundus in der Luft, das Publikum entspricht altershalber eher Elmigers (und meiner) Elterngeneration. Auf den Lesetischen stehen literweise Mineralwasserflaschen, wie um einem plötzlichen Verdursten vorzubeugen. Ich warte, warte mit den Anfangssätzen dieses Buches im Kopf, die man überall online nachlesen kann, die zum Mantra werden, das keine Einstiegshilfe ist. Mich kreuzt der Gedanke, dass das Wesen des Samplings, der Tumult der fließend eingebauten Assoziationen, das freie Zitieren und Weben eines Textes mit fremden Elementen einer ungeheuer großen, freien und beinahe wahllosen Aufnahmefähigkeit bedarf,  – und Geduld natürlich. Das Schreiben war ein Sammeln, sagt Dorothee Elmiger in einem Interview. Oder: Das Buch ist eher ein  Nachschauen, ein Forschen.

Experiment in Luftbläschenfolie

Die Vertreterin des Schweizer Buchpreises kündigt die Lesenden mit den Worten Es war ein Experiment an. Dorothee Elmiger präsentiert ihr Experiment in einem bedächtigen, weichen Schweizer Singsang, der ein ganz leiser, kaum auszumachender Singsang ist, es ist eine klare Sprache und ein klarer Ton, als müsste man Buchstaben in Luftbläschenfolie packen, damit sie nicht einstürzen. Sie ist pur und undramatisch. Auf die Dauer versickert das Lesen zwar in einer Gefühllosigkeit, monoton geht es voran, ohne dass man mehr versteht als: ein Fluss wird gesucht. Es scheint nicht viel zu passieren in diesem Buch von Waghalsigen. Es blitzen Details auf, Wortschächte.

Wortschächte, deren Schichtenerforschung allein neue Romane dauern könnte.

Codierung mit Rauschanteil

Elmigers Geschichte zweier Schwestern, die das Leben und Forschen unter sich aufteilen, erinnert in ihrer Chronologie an die Schilderungen alter Expeditionen, waghalsiger Forscher: Es gilt zu entdecken, und das zwingend vor dem Frost, denn müsste man Überwintern, könnte man Botschaften versenden, aber wer weiss, ob Antworten kommen, bevor der Ort nicht festgefroren ist.

Die erzählende Schwester, im Blick die andere, die durch die Ödnis schreitet, die ihre Heimat ist, die ihre Herkunft, ihre Jugend ist, die erzählende Schwester recherchiert und ohne die Bücher, die so rätselhaft rumliegen in der Wohnung, gäbs noch weniger als nichts: Ort, Geschichte, Personen, ein Mosaik aus Zitaten, in dem manche Pixel nicht besetzt sind. So präzise dieser Text ist, schwankt er manchmal vor Unentschlossenheit. Die Schwestern, sie sind wie zwei Steine, zwei Steine in einem landschaftlichen Desaster aus Stahl und Staub und sie warten darauf, dass etwas sie ins Rollen bringt. Die Komposition steht sich selbst im Weg.

Im Aufzählen, Aneinanderreihen von Artefakten, kunstvollen Fakten, soll eine Dramatik entstehen, das ist Muybridge, diese Dramaturgie setzt auf das Gären im Gedächtnis, auf das erneute Zusammensetzen und Spinnen einer persönlichen Variante des Textes im Kopf. Das Lesen wird zum Forschen.

Kampf zum Koffer

In der U-Bahn lese ich weiter, ich kämpfe mich vor, in finsteren Schächten, in flackernder Geschwindigkeit, umgeben von Schweiß, in der Kleidung festsitzendem Zigarettenrauch, Ungeduld, Müdigkeit, Privateigentum, Wärme, Kopfhörer, immer die gleiche freundliche Stimme einsteigen bitte, ich bin schon eingestiegen, ich sitze auf der Bank mit einem Buch auf dem Schoß, das auf einmal leuchtet wie ein Koffer, and the light SHINES from the case, it’s beautiful, goddamit, what is it?

Muss man ein Kind namens Ohnesorg auch über einen klaffenden Graben retten, in einem Traum, oder in echt?

Dramatik der erhöhten Schlagwortfrequenz

Dorothee Elmiger

Denn da erleuchtet sich abends unter der stehenden Lampe, mit dem schlafenden Alter auf dem Schoss: Zwischen dem Kunstversuch, altmodische Sprache mit moderner Welt zu vernetzen, ereignet sich das Experiment, der Jugend ins Gesicht zu blicken. Dorothee Elmiger führt Begriffe wie Sicherheit und Widerstand ad absurdum, wenn sich die neuen-alten Sicherheitskräfte durch hohe Eigenverantwortlichkeit und gesunden Berufsstolz qualifizieren und der Widerstand bedeutet, euch die Orchideen aus den Töpfen in die Böden zu entführen, ohne Ausrufezeichen. Das sind Begriffe, die Realität bestimmen. Das macht Spass. Wie beim Orientierungslauf klatschen sich die Schlagwörter ab: die hundert Kruzifixe des Privateigentums, die Unterhaltung. Und wenn man sich nach dem quälenden Anfang daran gewöhnt hat, dass all die Tage, die ich wartete und las wahlweise für die Protagonistin und die Leserin (und womöglich auch die Autorin, wie man befürchtet) zutreffen, versteht sich am Ende auch, dass diese Einladung gar nicht anders darf als ohne Fluss und uferlos von einer Suche nach dem Fluss zu erzählen.

Revolution, Rebellion, wir warten schon

Dorothee Elmiger erzählt von einer Jugend, die den Optionalitäten huldigt, das Ich immer groß schreibt, die ihre Ödnis im Übermaß findet und die sich die Nägel blutig knabbert für Revolution, Verbindlichkeit, Gemeinsamkeit, was auch immer, da bleibt die Vorstellung unterm Hochnebel klemmen. Und also wartet sie, mühselig und verzweifelt. Wenn also Dorothee Elmiger unsere Jugend nicht nur in ihrer Suche nach Widerstandsmöglichkeiten portraitiert, sondern sie (uns) bewusst in unserer Warterei vorführt, dann ist ihr mit dieser Einladung eine phänomenal konsequente Wucht gelungen.

Und in diesem Fall könnte man über Stolperer und Langatmigkeit hinwegsehen (wobei einem  nicht viel anders übrig bleibt) und sich an der viel versprechenden Topografin Elmiger erfreuen, die mit klingenden Namen und Typografie raffiniert zu erzählen weiß, dann doch mit Humor,

Wie oft willst du noch fragen?

(Noch einige Male vielleicht.)

Insofern: Das Nächste bitte! (mit ein bisschen mehr Fluss, wenn möglich?)

Charlotte von Bausznern

Dorothee Elmiger, 1985 in der Schweiz geboren, hat mit „Einladung an die Waghalsigen“, ihrem Debütroman, den Kelag-Preis und den aspekte-Literaturpreis 2010 gewonnen.

(Es wurde frei zitiert aus: Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen; Pulp Fiction; Interview mit D. E. in der WoZ; diversen Rezensionen.)

Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen. Roman. Köln. DuMont Buchverlag 2010. 144 Seiten. 16,95 Euro.

Dorothee Elmiger beim Bachmannpreis 2010.

Mehr zu Dorothee Elmiger bei DUMONT.

Interview mit Dorothee Elmiger von Kaspar Surber in der WOZ.

Video zum Schweizer Buchpreis: hier

Ein Interview mit der Sendung „aspekte“: hier

Foto: © Sam Tyson