Im Jenseits der Zeit
Nach dem epochalen Welttheater „Unterwelt“ beweist Don DeLillo mit einem kleinen Kammerspiel seine Meisterschaft.
Rey und Lauren sitzen in der Küche eines einsamen Landhauses, er „hinter der Zeitung, im Kaffee rührend.“ Toast fluppt aus dem Toaster, Orangensaft wird geschüttelt, draußen zirpen die Vögel und Sätze schwirren aneinander vorbei in die Leere: „Ich wollte Dir was sagen, aber was?“
Mit wenigen Strichen zeichnet Don DeLillo in seinem neuen Roman „Körperzeit“ die klassische Situation eines Ehepaares, das sich vor langer Gewöhnung kaum noch wahrnimmt und stets aneinander vorbeiredet. Nach seinem epochalen Welttheater in „Unterwelt“ widmet sich DeLillo, der als eine der größten Gegenwartsautoren Amerikas gilt, dem kleinen Kammerspiel – und stellt eindruckvoll unter Beweis, wie gut er die gesamte Klaviatur der Prosaformen beherrscht. Intensiv kostet er in seiner zwischenmenschlichen Studie den Kontrast von detailgenau beschriebenen, ganz alltäglichen Dingen sowie einer hochpoetischen Huldigung des klaren Augenblicks aus, die einen „Raum im Abseits der Zeit“ evoziert. Über diesem dichten Szenario schwebt wie ein Verhängnis ein unscheinbarer Satz auf der ersten Seite: „Es ergab sich an diesem letzten Morgen“.
Nach einem harten Schnitt liest man so den Nachruf auf den Filmregisseur Rey Robles, der sich im (vermutlichen) Alter von 64 Jahren in Manhattan erschossen hat – das Motiv bleibt unklar. Seine Frau, die Performance-Künstlerin Lauren Hartke, kehrt in das einsame Landhaus zurück und füllt die „Tage, die so langsam vergingen, dass es wehtat“ mit Mahlzeiten, Verpflichtungen, Besorgungen sowie einer Webcam im Internet – diese zeigt 24 Stunden lang als einen „Akt schwebender Poesie“ eine einsame zweispurige Landstrasse im finnischen Kotka.
Plötzlich findet Lauren in einem Zimmer des oberen Stockwerkes einen Mann in Unterwäsche, der in kryptischen Sätzen und der Stimme von Rey mit ihr spricht. Dieser Mr. Tuttle genannte Findling lebt in einer Wirklichkeit außerhalb des Zeitkontinuums, ist stets vom Hauch des Halluzinativen umgeben und drängt sich in die erinnernde Trauerarbeit der Witwe. In einer verwirrenden Sphäre des Geistigen bietet die harte Körper-Arbeit für die Performance-Künstlerin Lauren die einzige Klarheit: Ihr Ziel ist es, „eine Leerstelle zu werden, eine Körpertafel, von der jede Ähnlichkeit mit früher getilgt war.“
Don DeLillo’s Kammerspieler erscheinen dem Leser auf irritierende Weise, wie es bei Walter Benjamin heißt, zugleich „so nah und doch so fern“ und sind von einer schwirrenden Aura umgeben. „Körperzeit“ ist ein Vexierbild zwischen der fast raunend beschworenen Ewigkeit und dem Banalen, ja stellenweise Vulgären.
Alles scheint hier darauf abzuzielen, die „Zeit anzuhalten oder auszudehnen oder zu öffnen“ – denn so heißt es nach einem abermaligen Schnitt in einer Reportage über die neueste Performance von Lauren Hartke, in der das so ereignisarme und doch so reiche Geschehen seine künstlerische Spiegelung und Brechung findet.
Karsten Herrmann
Don DeLillo: Körperzeit. Kiepenheuer & Witsch, 140 S., 29,90 DM. ISBN 3-462-02973-8.