Geschrieben am 29. Oktober 2007 von für Bücher, Litmag

Don DeLillo: Falling Man

Postmoderner Chronist der Zeitenwende(n)

Einen Roman über die tausendfach medial in das Bewusstsein eingebrannten Terroranschläge vom 9/11 zu schreiben, ist eine literarische Herausforderung mit vielen Fallstricken und Untiefen – Don DeLillo meistert sie in „Falling Man“ souverän und unterstreicht seine Vorrangstellung in der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Don DeLillo spürt in seinem Roman der durch die Terroranschläge eingeläuteten Zeitenwende nach und zeigt ihre traumatisierenden Auswirkungen auf den einzelnen Menschen, die Familie, die amerikanische Gesellschaft und die globalisierte Welt. Alles wird ab diesem zum Symbol gewordenen Datum an einem „Danach“ gemessen und zugleich frisst sich wie ein Krebs die Angst vor dem, was als nächstes kommt, in die Köpfe. Die Fassaden der Sicherheit und Selbstverständlichkeit sind zerbröselt: „Vielleicht war nichts mehr normal. Vielleicht gab es eine tiefe Kluft in den Fasern der Dinge, in der Art, wie die Dinge durch den Geist ziehen.“

Leben im Übergang

Im Mittelpunkt von „Falling Man“ steht die Kleinfamilie von Keith, Lianne und Justin. Keith entkommt aus einem der Twin Towers, „aus dem zeitlosen Trudeln der langen Abwärtsspirale“, und schwer gezeichnet und mit einer fremden Aktentasche in der Hand zieht es ihn magnetisch zu Frau und Kind, von denen er schon über ein Jahr getrennt lebt. Die Wahrnehmung der Welt wird für jeden von ihnen eine andere, und das Leben spielt sich in einem Übergang ab, von dem man nicht weiß, wohin er führt.

Vielperspektivisch schwingt DeLillo in seinem Roman zwischen den verschiedensten Zeit- und Gesellschaftsebenen, zwischen den verschiedensten Menschen und ihren intimen Beziehungen hin und her. So streift er eine Gruppe Demenzkranker in New York ebenso wie eine Al-Quaida Terrorzelle in Hamburg oder einen zwielichtigen ehemaligen deutschen Linksterroristen. Aus schnell abfolgenden Fragmenten und meisterhaften Miniaturen setzt er ein Spektrum des Terrors und seiner Auswirkungen zusammen: So suchen Kinder den Himmel mit einem Fernglas nach Flugzeugen ab, wispern voller Angst von einem Bill Lawton (= Bin Laden) und „warten darauf, dass es wieder passiert“. Und so stürzt sich in den Straßenschluchten von Manhattan der titelgebende Performance-Künstler Falling Man von den Hochhäusern in die Tiefe und perpetuiert den Schmerz und den Schock der aus den Twin Towers gesprungenen und gefallenen Menschen.

Mit seinem neuen Roman stellt Don DeLilllo einmal mehr unter Beweis, wie virtuos und souverän er die Klaviatur dieses Genres bespielt – von der Doku-Fiction in „Sieben Sekunden“ über die geradezu episch zwischen Atombombe und Baseball dahinströmende „Unterwelt“ und das Kammerspiel der „Körperzeit“ bis zur untergründigen Chronik des Terrors in „Falling Man“.

Poetische Sprengsätze


„Falling Man“ ist ein perfekt komponierter Roman, der durch eine fein sublimierte postmoderne Erzählstruktur und den präzise zupackenden und vibrierenden Sound der Prosa von DeLillo getragen wird. Mit kleinen poetischen und leicht surreal angehauchten Sprengsätzen durchbricht er dabei immer wieder den Blick des Gewohnten und lässt aus dem scheinbar Bekannten das Besondere und Überraschende hervorleuchten – und sei es nur in Gestalt eines weißes Hemdes, das langsam und symbolträchtig vor den zusammenstürzenden Twin Towers durch die Luft flattert.

Auf meisterhafte Weise gelingt es DeLillo in „Falling Man“ hinter den durch die Endlosschleifen der Medien in das Bewusstsein eingebrannten Bilder vom 9/11 einen neuen Film mit überraschenden Dimensionen und Assoziationen entstehen zu lassen: „Die Dinge wirkten angehalten, klarer fürs Auge, auf eine seltsame Art …“

Karsten Herrmann

Don DeLillo: Falling Man. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch 2007. 304 Seiten. 19,90 Euro.