Geschrieben am 28. Februar 2009 von für Bücher, Crimemag

Domingo Villar: Wasserblaue Augen

Unterhaltung ja, aber Erkenntnis?

Der galizische Journalist, Drehbuchautor und Gastronomiekritiker Domingo Villar (*1971) legt mit Wasserblaue Augen ein sauberes Krimidebüt vor, an dem es wenig zu mäkeln gibt. Der Roman ist der Startschuss zu einer Serie um Inspektor Leo Caldas und gibt Anlass zur Vermutung, dass Villar noch mehr und noch Besseres nachlegen wird. Doris Wieser hat den Roman gelesen.

In der galicischen Hafenstadt Vigo wird der junge Musiker Luis Reigosa von seiner Putzfrau tot aufgefunden. Er ist ans Bett gefesselt, sein Gesicht schmerzverzerrt, der Körper verdreht und nur von einem Laken bedeckt. Als dieses gelüftet wird, bietet sich den Ermittlern Leo Caldas und Rafael Estévez ein grauenvoller Anblick: Der Unterleib des Toten ist ein einziges schwarzes, aufgedunsenes Hämatom. Irgendwo zwischen den Hautfalten greift der Gerichtsmediziner mit seiner Chirurgenzange ein kleines verschrumpeltes Würmchen, den Penis des Toten. Mit welcher Substanz kann man denn menschliches Gewebe so ausdörren? Ein Rätsel. Aber die Experten bringen bald Klarheit in die Angelegenheit: Dem Toten wurde Formaldehyd mit einer Spritze in sein Geschlechtsteil injiziert. Das Konservierungsmittel entzieht – spritzt man es in einen lebenden Körper – dem Gewebe Wasser, aber das konnte sicher nur ein Spezialist wissen …

Und außerdem hat Estévez eines gleich im Gefühl. Der Tote muss schwul gewesen sein: „Schauen Sie sich bloß die ganzen CDs an oder die Bilder da drüben, und erst recht das über dem Bett, da merkt doch jeder, dass bei dem was nicht stimmte“ (S. 36). Als die Mitglieder aus Luis Band diesen Verdacht bestätigen, richtet Caldas die Ermittlung ausschließlich auf männliche, homosexuelle Personen. Ein Fehler?

Running Gags

Die Ermittlung verläuft um einige Ecken und nimmt so manche unüberlegte Kurve, was Caldas fast um Kopf und Kragen bringt. Er verfolgt fast bis zum Schluss eine falsche Fährte, in der alles zu passen scheint. Das hat Villar sehr nett gemacht, unterhaltend und spritzig, mit einem flotten Rhythmus. Der Roman hat keine Nebenhandlungen, keine Perspektivenwechsel, keine Zeitsprünge, sondern konstruiert sich brav und dennoch genüsslich entlang der Ermittlung. Ins Schmunzeln kommt man dabei oft genug. Villar benutzt mehrere amüsante Running Gags, was den Roman in die Nähe von Comedy Shows bringt. Mit einem Gag mokiert er sich zum Beispiel über die galicische Wesensart, die den aus Zaragoza stammenden Estévez zur Weißglut bringt. Echte gallegos sind von Grund auf misstrauisch und antworten nie gerade heraus. Das ist nicht nur im Roman so, sondern in Spanien ein bekannter Stereotyp, etwa vergleichbar mit dem Stereotyp der geizigen Schwaben hierzulande. Trifft man einen gallego auf einer Treppe – so wird gesagt – kann man nie wissen, ob er gerade rauf oder runter geht. Jede Frage beantwortet er mit einer Gegenfrage – einem Jein, Vielleicht oder Eigentlich. Wie soll man so einen Zeugen vernehmen?, fragt sich Estévez. Der ohnehin schon cholerische Aragonese erleidet in Galicien geradezu einen intra-iberischen Kulturschock.

Ein weiterer Running Gag durchzieht die Momente, in denen sich Inspektor Caldas Zeugen oder Verdächtigen vorstellt. Von allen wird er sofort als „der vom Radio“ erkannt. Caldas arbeitet nämlich für die „Hörfunkstreife“, bei der Bürger anrufen und ihre Beschwerden direkt an den Polizisten richten können. So wurde er zu einer Art Lokalheld: der Polizist mit offenem Ohr für die Belange der Bürger, der Freund und Helfer. Logisch, dass vor allem der ungestüme Estévez ziemlich genervt darauf reagiert.

Galicien ist nicht gleich Spanien

Die Gags nutzen sich zwar mit der Zeit ab wie auch so manches, nur auf Unterhaltung gerichtetes Geplänkel zwischen den Ermittlern, aber der Roman bietet darüber hinaus noch eine ganze Palette von hübschen lokalen Besonderheiten. Durch den dramaturgischen Kniff, eine Person aus einer anderen Region Spaniens einzusetzen, deren Blick auf Galicien beinahe dem eines Ausländers gleicht, können auch wir das typisch Galicische wahrnehmen, lieben oder hassen und vor allem viel darüber lachen: das notorisch schlechte Wetter, den rauen Atlantik mit seinen giftigen Petermännchen, leckere Meeresfrüchte, guten Wein … und natürlich die nervig, misstrauische Art der gallegos. Nichts für ungeduldige Gemüter.

Femme fatale im 21. Jahrhundert

Nörgeln könnte man auf den ersten Blick über den Schluss. Soviel darf hier verraten sein: Eine femme fatale ist der Schlüssel zur Lösung des Falls. Das kennen wir natürlich schon von Raymond Chandler und dem Film noir, aber in den 1940ern! Inwiefern ist das im Jahr 2006 (Erscheinungsjahr in Spanien) erzählerisch noch interessant? Man möchte schon „laaaaaangweilig“ über die Seiten kritzeln. Aber überdenkt man noch einmal, wie Villar den Plot angelegt hat, so wird deutlich, dass die femme fatale einfach nicht in Caldas Ermittlungsschema passen konnte. Er suchte nach einem schwulen Mann, der Täter musste einfach ein schwuler Mann sein, ging gar nicht anders, völlig klarer Fall. Denn ein schwuler, ans Bett gefesselter, nackter Toter muss von einem Schwulen umgebracht worden sein. Ein Gedanke, der wohl nur einem straight mind entspringen kann. Oder was würden Judith Butler und Co. dazu sagen? Subjektkonzeptionen sind immer mit der Konstruktion geschlechtlicher Identität verknüpft. Das kann uns in gewisser Weise helfen, aber eben auch blind machen.

Der Roman porträtiert schön und glaubwürdig, wie Homosexuelle im heutigen Spanien leben. Die Jungen (wie Luis Reigosa) frei, offen, ungehemmt, out and proud. Heterosexuelle Männer (wie Estévez) setzen sich aber gegen maricones allzu schnell mit den Fäusten zur Wehr, schließlich gibt es ja nichts Schlimmeres, als von einem Schwulen für schwul gehalten zu werden, klar. Die Älteren (wie der verdächtige Arzt Zuriaga), vor allem wenn sie zur High Society gehören und in der Öffentlichkeit stehen, zensieren sich selbst, führen Ehen, haben Kinder und verstecken ihre gleichgeschlechtlichen Liebhaber in the closet.

Fazit: Großer Unterhaltungswert, ein immerhin ganz ordentlicher ästhetischer Wert und über den Erkenntniswert möge jeder selbst urteilen.

Doris Wieser

Domingo Villar: Wasserblaue Augen (Ojos de agua, 2006). Roman. Deutsch von Peter Kultzen. Zürich: Unionsverlag metro 2008. 221 Seiten. 16,90 Euro.