„Nichts ist wahr – alles ist erlaubt“
„Nichts ist wahr – alles ist erlaubt“ – dieser von Friedrich Nietzsche und William S. Burroughs schon gerne benutzte und die Postmoderne antizipierende Wahlspruch führt auch mitten hinein in die (surrealen) Untiefen von Denis Johnsons „Schon tot“: Die Wirklichkeit ist hier keine feste Größe mehr und öffnet ihre Türen in die faszinierend-bedrohlichen Räume des Traumes, der Psychose, des Drogenrausches und der Spiritualität. Entsprechend setzt sich das reichhaltige Personal von „Schon tot“ auch aus ziemlich merkwürdigen Existenzen zusammen: Alt-Hippies und LSD-Freaks, New Age-Verkünder, Selbstmordkandidaten und Alkoholiker. Nichts ist normal in dieser Geschichte, die sich vor einem reizvollen kalifornischen Panorama mit himmelhohen Redwood-Wäldern, zerklüfteten Küstenstreifen, wallenden Nebelschwaden und einer „singenden Stille“ entfaltet: „Sonderbares Land, in dem sich vor den Augen des Träumers immer wieder ein goldenes Tor auftut.“
Im Mittelpunkt des Plots – der ganz explizit auf einem Gedicht von Bill Knott beruht – steht der aus reichem Hause stammende, jedoch hoch verschuldete und Pot anbauende Nelson Fairchield. In einem tragi-komischen Zug des Schicksals beobachtet dieser den Selbstmordversuch des krebskranken van Ness und rettet ihn aus einem See. Im Gegenzug lässt sich van Ness – „ein Mann mit Willenskraft, ein Mann, der gegenüber der Grenze zwischen Tat und Gedanken blind ist“ – auf ein Mordkomplott gegen Fairchields Frau Winona ein. Doch der „eiskalte Nietzscheaner“ van Ness gerät außer Kontrolle und zelebriert gewalttätig seine von jeglichen Werten und Moralordnungen befreite Philosophie: „In einer Welt, an deren Existenz man nicht glaubt, kann man tun, was immer man will.“
Denis Johnson, der als einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren gilt, rekonstruiert diese sich weit verzweigende Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, lässt die Zeit vor- und zurücklaufen und arbeitet mit einer radikalen Schnitttechnik. Das Ergebnis ist ein durch und durch zwiespältiges: Einerseits gelingen Denis Johnson immer wieder Passagen von bizarr-morbider Schönheit und philosophischer Tiefe, die zuweilen an Filme von David Lynch erinnern. Andererseits ermüdet er jedoch auch durch sein seitenlanges spirituell-psychotisches Geschwätz und durch zeitweise völlig unmotivierte Handlungsabläufe. Zum Ende lässt Denis Johnson seinen voluminösen Roman jedoch schließlich unwiderstehlich in einen langen und albtraumhaften Todeskampf münden, der den Leser mit einer geradezu körperlichen Wucht und Beklemmung trifft:
„Donner rollte über seinen Kopf hinweg. Schüsse. Seine linke Körperhälfte fühlte sich entsetzlich kalt an, die Schulter eisig. Derart am Pranger, blickte er zu den Zweigen hoch. Ein Windstoß verdrehte die Blätter zu zweideutigen Gesten. Er ahnte, dass er nicht dort war, wo er zu sein glaubte, nicht mal annähernd.“
Karsten Herrmann
Denis Johnson: Schon tot. Alexander Fest Verlag, 633 S., 49.80 DM