Geschrieben am 8. Oktober 2014 von für Bücher, Litmag

Debütantinnen (Teil 1): Angerer, Koschmieder, von Canal

Frank Göhre wirft einen Blick auf aktuelle Debütromane. Diesmal betrachtet er die deutschen Autorinnen Anne von Canal, Ela Angerer und Christine Koschmieder.

von Kanal_GrundImmerkalte Hände

„Hier bin ich wieder.“ So meldet sich der im Jahr 2005 siebenundvierzigjährige Barpianist Victor Alexander Laurentius Simonsen, Laurits genannt, zu Wort. Geboren und aufgewachsen ist er in einem reichen Stockholmer Vorort, der Vater ein Klinikarzt, die Mutter nervig und mit „immerkalten Händen“. Er blickt zurück, der nur äußerlich erwachsene, in dem ihm von der Autorin Anne von Canal, Jahrgang 73, zugeschriebenen Denken und Fühlen aber noch voll in der Pubertät steckende Mann – „sein Gehirn wie in Watte verpackt“, „kneifendes Unbehagen in seinem Bauch.“ Konzertpianist wollte er werden und hat geübt und geübt: Die „Finger bewegten sich über die Tasten wie Wellen, die an den Strand schlagen, die schäumend kleine Kiesel und Muscheln und Sand fressen.“ Es nutzt nichts. Die Prüfungskommission lässt ihn durchfallen. Doch ach! Es ist nicht mangelndes Können, muss er später, sehr viel später erfahren, nein, der Herr Papa ist es, der die „Aufnahmeprüfung sabotiert“ hat: „Lautlos gefror sein [Laurits] Blut und er erstarrte: Er hat mich verkauft!“

Fortan geht es bergab und Laurits endet als Mann „an den Tasten“ auf einem Kreuzfahrtschiff. Dort klimpert er vor sich hin und sinniert über sich und sein Tun: „Den Unterhaltern wird unterstellt, sie beherrschten die Kunst nicht, dabei erheben sie diesen Anspruch gar nicht. Ihr Anspruch ist es, Menschen zu erreichen. Und das gelingt ihnen (vermutlich besser, als ihren Kritikern). Schließlich sind es die Pianöre aller kulturellen Sparten, die Geld verdienen. In der Literatur, in der Kunst, in der Musik – es gefällt, was gefällig ist. Ich kann daran nichts Schlechtes finden.“ So formuliert es die auf einem Weingut an der Mosel lebende Autorin dieses literarischen DebütsDer Grundund hat sich sichtlich bemüht, diesen Anspruch einzulösen. Das Ergebnis aber ist lediglich gepflegte Langeweile.

Anne von Canal: Der Grund. Roman. mareverlag, Hamburg, 2014. 272 Seiten. 20,00 Euro.

Angerer_21Aus der Welt von Neureichen, Parvenüs und Psychopillen

Auch der erste Roman der Österreicherin Ela Angerer, Jahrgang 64, Bis ich 21 war hat einen düsteren familiären Hintergrund: Der Vater der Ich-Erzählerin findet die heranwachsende Tochter abgrundtief hässlich und auch die Mutter ist bereits bei der Geburt alles andere als vom Glück überwältigt. Der Arzt kommentiert ihre Reaktion mit den Worten: „Wenn Sie wollen, gnädige Frau, können Sie mir das Baby zurückgeben, und ich schenke Ihnen stattdessen ein Stofftier.“ Es sind die

Siebziger Jahre, und in dem Wiener Elternhaus wird über Politik oder Kunst „nie gesprochen, dafür umso mehr über Sex, Sportwagen, Kreuzfahrten, Uhren und Schmuck. Man hatte Personal und noch keinen Krebs.“

So zieht denn der Mann alsbald von dannen und die Mutter vögelt ihrerseits in den besseren Kreisen herum, während der Großvater, „der schon meine Mutter sexuell belästigt hatte, es fünfzehn Jahre später auch bei mir [tat].“ Psychisch derart angeknackst, hilft auch die Internatserziehung nichts. Im Gegenteil: Da hüpfen die Mädel miteinander in die Betten und frönen der lesbischen Lust, und der Griff zur Droge wird zur Routine.

Es ist eine Story aus der „Welt von Neureichen, Parvenüs und Psychopillen“ – so der Klappentext des Verlags – , ein Stoff, der in den Talkshow-Runden bei Maischberger und dem „Frauenversteher“ Meyer-Burckhardt immer wieder gern genommen und mitfühlend moderiert wird. Zumal die attraktive Autorin auch noch aus früheren kurzen Texten ein Theaterstück mit dem Titel „Porno“ gezimmert hat.

Ela Angerer: Bis ich 21 war. Roman. Deuticke Verlag, Wien, 2014. 189 Seiten, 18,90 Euro.

koschmieder_SchweinesystemHysterie der Staatsapparate

Ein ganz anderes Kaliber ist da das Debüt der Leipzigerin Christine Koschmieder, Jahrgang 72. Sie erzählt in ihrem 390 Seiten starken Roman Schweinesystem die Geschichte von zwei Frauen Ende der Siebziger, Anfang der Achtzigerjahre. Es sind die westdeutsche Studienrätin Elisabeth und die in Marshalltown, Iowa, lebende Shirly. Dass sie etwas verbindet, erschließt sich nicht sogleich. Die eine ist unglücklich verheiratet, die andere ist mit den Männern längst schon durch. Doch von Kapitel zu Kapitel nähern sie sich einander an in ihrem Kampf um Selbstbestimmung und der Sehnsucht nach Glück.

Gekonnt wechselt die Autorin die Erzählperspektiven, gibt mal Shirly, mal Elisabeth mehr Profil, trennt (mit der Abbildung einer Schere verdeutlicht) einzelne Passagen, fügt Tonbandprotokolle und Presseausschnitte ein – kurz, sie handhabt souverän ihr Textmaterial, all das von ihr Recherchierte und das vermutlich von Zeitzeugen Gehörte. Verwoben wird das mit einer abenteuerlichen Agentenstory, die für die frustrierte Studienrätin Elisabeth auf dem Ausflugsdampfer „Alte Liebe“ beginnt: „Sie wird tatsächlich DDR-Boden betreten. Im Anschluss verspricht der Zettel Kaffee und Kuchen im Interhotel Neptun: ‚350 Zimmer, alle mit Meerblick, naja, manche mit seitlichem Meerblick‘, erklärt der Mann mit den Basaltaugen (‚für Sie: Alexander‘).“Alexander – ein „Romeo“, ein Verführer im Auftrag der Stasi.

Der genaue und klare Blick zurück auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland Ost und Deutschland West, auf die beidseitige Bespitzelung und die Hysterie der Staatsapparate, den Wahn und den Irrwitz – das alles und nicht zuletzt Christine Koschmieders intelligente und stilsichere Schreibe machen diesen Roman zu einem großen Lesevergnügen. Ein zusätzlicher Stern noch für den „Bonus Track“, eine Chronik der Jahre 1979 – 2013.

Christine Koschmieder: Schweinesystem. Roman. Blumenbar, Aufbau Verlag, Berlin, 2014. 400 Seiten. 20,00 Euro.

Frank Göhre

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