Geschrieben am 6. April 2009 von für Bücher, Litmag

David Lodge: Wie Bitte?

Taubheit, wo ist dein Stachel?

David Lodge hat in seinem ebenso verstörenden wie bewegenden Roman Wie bitte? die Irrungen und Wirrungen eines schwerhörigen Professors beschrieben. Von Peter Münder

Für David Lodge, den 74-jährigen emeritierten Anglistik-Professor aus Birmingham, scheint die Devise „Es muss doch mehr als alles geben“ das beherrschende Lebensmotto zu sein. Er will in seinen inzwischen fünfzehn Romanen nicht nur möglichst unterschiedliche und anspruchsvolle Themen mit differenzierten Erzähltechniken unterhaltsam präsentieren, er schreibt auch Drehbücher und Theaterstücke (Literatenspiele, Wunde Punkte). Lodge gilt ja als Spezialist und Initiator des modernen satirischen Campus-Romans, doch er wollte auch immer mehr liefern als ironisch eingefärbte Impressionen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. In Changing Places (Ortswechsel, 1975) nahm er die skurrilen Aspekte der britisch-amerikanischen Kulturkluft und die amourösen Abenteuer zweier Professoren aufs Korn, die ihre akademischen Arbeitsplätze tauschen: Der verklemmte Engländer Philip Swallow blüht am kalifornischen Euphoric State College (Berkeley lässt grüßen) trotz der turbulenten Studentenunruhen regelrecht auf, als er so exotische Dinge wie Freie Liebe, Joints und eine „Anything Goes“- Lässigkeit kennenlernt. Und der promiskuitive Amerikaner Morris Zapp, der an der britischen Provinz-Uni Rummidge direkt ins 19. Jahrhundert zurückkatapultiert zu werden scheint, genießt die spießigen pseudo-viktorianischen Eskapaden nach einem starken Kulturschock aus vollen Zügen. Komische Kontraste und groteske Widersprüche zwischen akademischem Elfenbeinturm und renditeträchtiger Firmenkultur standen im Bestseller Nice Work (Saubere Arbeit, 1988) im Mittelpunkt, der übrigens mit großem Erfolg als BBC-TV-Serie nach dem Drehbuch von David Lodge verfilmt wurde. 2004 präsentierte dieser dann – große Überraschung! – den biografischen Roman über Henry James (Autor!Autor!), für den er zehn Jahre lang recherchiert hatte.

Offensichtlich hegt Lodge große Sympathien für den erfolgreichen Romancier und gescheiterten Dramatiker James, dessen Stück Guy Domville 1895 in London ein katastrophaler Flop wurde und James vorübergehend zutiefst deprimierte – jedenfalls schrieb er danach kein weiteres Bühnenstück. Für Lodge ging es aber auch darum, den angeblich so langweiligen Autor aufzuwerten und den Amerikaner mit einem Faible für europäisches Bildungsbürgertum wiederzuentdecken. Aufregend war für ihn auch die Tatsache, dass es plötzlich vier Autoren gab, die zeitgleich mit ihm biografische Romane über Henry James verfassten und er sich vorkam wie ein Marathonläufer, der noch kurz vor der Zielgeraden abgefangen wird, als Colm Toibin seinen James-Roman einige Monate vor ihm veröffentlichte. Beide wurden übrigens für den Booker Prize nominiert: „Den Anstieg der Quoten für uns Autoren in den Wettbüros mitzuerleben, war jedenfalls ein extrem spannendes, einmaliges Ereignis für mich“, erklärte Lodge damals. Er war aber auch ziemlich sauer, dass man um den Schnellschreiberrivalen Toibin in den englischen Medien einen großen Rummel machte, aber kaum über Leben und Werk von Henry James diskutierte. Abwegig fand er es auch, dass Toibin in seinem Roman über James’ Homosexualität spekulierte, für die es laut Lodge keine eindeutigen Indizien gibt.

Zwischen deprimierender Schwermut, hypochondrischem Altersstarrsinn und schriller Satire

Mit dem Titel des neuen Romans Wie bitte? assoziiert man natürlich Schwerhörigkeit und erwartet daher wohl eine harmlose Satire mit deftiger Situationskomik und drastischen Slapstick-Einlagen. Die gibt es hier zwar auch, aber Lodge will mal wieder mehr als das pure Amüsement. Er selbst ist schon seit einigen Jahren schwerhörig und benutzt einen Hörapparat. Etliche von ihm falsch interpretierte Gesprächssituationen, so hat er in mehreren Interviews und jetzt auch während seiner Hamburger Lesung im Literaturhaus erklärt, verursachten ihm großes Unbehagen und deprimierten ihn. Daher ist also der im Mittelpunkt stehende Erzähler, der vorzeitig in den Ruhestand getretene Linguistik-Professor Desmond Bates, autobiografisch geprägt. Lodge verknüpft die Außenseiterrolle des schwerhörigen Bates mit anderen Aspekten, die zwischen deprimierender Schwermut, hypochondrischem Altersstarrsinn und schriller Satire oszillieren. Dabei mutet er dem Leser auch einige verstörende Eskapaden zu. Bates’ Ausflug nach Auschwitz (während einer Lesereise in Polen) mit Überlegungen zum Holocaust-Horror gehört ebenso dazu wie die Darstellung der starrsinnigen Vereinsamung von Bates senior, der sich kaum noch selbst in seinem Londoner Domizil versorgen kann, sich aber hartnäckig weigert, zu seinem Sohn in den Norden zu ziehen, um sich dort in einem Heim betreuen zu lassen. Dann gibt es noch das aberwitzige Erpresser-Szenario, das eine egoistische amerikanische Studentin mit der klassischen erotischen Honey-Trap konstruiert, um sich als Doktorandin bei Bates einzuschmeicheln, der ihre Dissertation über Abschiedsbriefe von Selbstmördern betreuen soll. Es geht Lodge also um den tragikomischen Spagat zwischen Realsatire und düsteren Depressionen, was auch die Anspielungen auf den „kleinen Tod“ sowie der englische Originaltitel Deaf Sentence illustrieren.

Bates kämpft an mehreren Fronten: Seiner dynamischen Powerfrau Winifred (genannt Fred), einer erfolgreichen Geschäftsfrau, will er zeigen, dass er noch nicht –auch potenzmäßig – zum alten Eisen gehört; um seinen störrischen, unter Demenz leidenden Vater in London muss er sich regelmäßig kümmern, die zudringliche Studentin Alexa Loom mit ihren akademischen Hochstapler-Ambitionen irgendwie unter Kontrolle bringen und dabei noch permanent die Tücken der Technik bewältigen: Leere Batterien oder falsch eingesetzte und defekte Hörapparate bescheren ihm viel zu oft peinliche und irritierende Situationen. Dann nimmt er sogar noch an einem Lippenlesekurs mit älteren Leidensgenossen teil, den er mit Bravour und selbstironischer Gelassenheit absolviert. Doch oft genug wirkt Bates in seinem Bemühen, es allen zu zeigen und den hyperschlauen Professor rauszukehren, wie ein penetranter Klippschullehrer. Da die Hochtonschwerhörigkeit zum Überhören der Konsonanten führt, fällt Bates eine Passage aus Alice im Wunderland ein, woran sich ein typischer kleiner Oberlehrer-Exkurs anknüpft: „‚Sagtest du pig oder fig?‛, fragte die Katze. ‚Ich sagte pig‛, erwiderte Alice.“ Vielleicht war die Cheshire-Katze ein wenig schwerhörig und wusste nicht genau, ob Alice beim ersten Wort einen bilabialen Plosiv oder einen labiodentalen Frikativ benutzt hatte, und als wohlerzogenes kleines Mädchen aus der viktorianischen Mittelschicht hatte sie bestimmt sehr deutlich gesprochen. Das „F“ ist ein labiodentaler Frikativ, weil man ihn produziert usw. „Aufgemerkt nun also!“ hätte wohl ein wilhelminischer Schulmeister an dieser Stelle geblafft.
„Taubheit, wo ist dein Stachel?“, heißt es an einer Stelle. Darauf liefert Bates selbst die kurze, knackige Antwort: „Überall!“ Da hilft dann auch nicht der autosuggestive Trost weiter, Beethoven oder Goya hätten als taube Künstler doch noch beeindruckende Meisterwerke produziert.

Ein ironischer und sehr differenzierter Erzähler

Peinlich und komisch, verwirrend und lästig sind viele Gesprächssituationen, die der schwerhörige Bates hier in einem wunderbar lakonischen Stil wiedergibt. So etwa der Dialog mit einer Freundin, die Bates über ihren Frankreichurlaub berichtet. Das kommt bei ihm dann so an: „Es fetzte der letzte Zankscheich urlaut, war nur Scheiß …“ – so jedenfalls verstand ich Sylvia Cooper – „wir verbrachten die Eiszeit in unserem Pfandhaus, die Kollegen erschossen!“ „Wie bitte?“, fragte ich.
„Ich sagte, der letzte Frankreichurlaub war zu heiß, wir verbrachten die meiste Zeit in unserem Landhaus, die Rollläden geschlossen.“
„Heiß? Das muss dann der Sommer 2003 gewesen sein.“
„Vier Paare kamen bar an Sonne, reisende Schätze, die aber leider durch den Kubismus verstorben sind.“
„Wie meinten Sie?“
„Wir waren in der Nähe von Carcasonne, ganz reizende Plätze, die aber leider durch den Tourismus verdorben sind.“
„Jaja, überall die gleiche Geschichte“, nickte ich weise.
„Aber ich muß sehr auf Sherry hier beißen“… Man beachte die geniale deutsche Übersetzung der Sprachartistin und Lodge-Expertin Renate Orth-Guttmann, die sich hier mal wieder selbst übertroffen hat!

Sehr anrührend und bewegend sind die Episoden mit Bates’ altem Dad. Der komische Kauz, der sich nichts mehr sagen lässt, obwohl er keinen Durchblick mehr hat, ist eine zwar misstrauische, aber liebenswerte Figur, die direkt aus einem Dickens-Roman zu stammen scheint. Der Alte hält die Banken für betrügerisch (wer will da widersprechen?), die Lotterie-Organisatoren für Gauner, den Nachbarn ist nicht zu trauen … Doch Bates geht liebevoll auf diese Marotten ein und umsorgt den Alten bis zu seinem Tod – einfühlsame Impressionen, die an seinen eigenen, im Alter von 93 Jahren verstorbenen Vater erinnern, wie Lodge auf seiner Hamburger Lesung berichtete. In solchen Episoden evoziert der Autor mit einer an Tschechow erinnernden melancholischen Leichtigkeit tragikomische Effekte, die auf die Flüchtigkeit gegenwärtiger hektischer Ereignisse verweisen. Das mahnende „Carpe diem!“ wird hier keineswegs mit der erhobenen pädagogischen Keule vermittelt, sondern ergibt sich ganz von selbst. Hier zeigt sich auch die Meisterschaft des ironischen, sehr differenziert vorgehenden Erzählers: Es geht eben nicht um plumpe Effekthascherei oder um das Vorführen tollpatschiger Dumpfbacken, sondern um das sensible Registrieren von Verhaltensmustern, die diesen Veränderungsprozessen nicht gewachsen sind. Ja, David Lodge mutet dem Leser zwar einiges zu, aber das ist eben das Bewundernswerte an diesem experimentierfreudigen Autor. Er biedert sich nie beim Leser an und sorgt immer wieder für Überraschungseffekte. Obwohl einige Exkurse zu langatmig und etwas betulich geraten sind, ist Wie bitte? dennoch ein grandioses, breit gefächertes Werk, das unter der realsatirischen Oberfläche erhellende Einblicke in tragikomische Konstellationen und einen Jahrmarkt akademischer Eitelkeiten liefert.

Peter Münder

David Lodge: Wie Bitte? (Deaf Sentence, 2008). Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Karl Blessing Verlag 2009. 367 S. 19,95 Euro