Geschrieben am 16. Oktober 2013 von für Bücher, Litmag

David Gilmour: Auf der Suche nach Italien

David Gilmour_Auf der Suche nach ItalienHistorisch falsch gelaufen?

David Gilmour bestreitet die Einheit Italiens. Von Wolfram Schütte.

Die deutsche Liebe zu Italien – zu dem Land & den Leuten – ist seit dem immer wieder mit Mehrheit wiedergewählten Berlusconi auf eine harte Probe gestellt worden. Auch hat der “Cavaliere” mit seinen TV-Sendern & seinen sonstigen gesellschaftspolitischen Kollateralschäden das Land & seine Menschen nachhaltig beschädigt, wenn nicht gar verändert. Daran sind sie leider alle selbst schuld.

Man wird sich als jahrzehntelanger Italienliebhaber also langsam fragen müssen, ob der unbelehrbare “Berlusconismus” samt dessen zerstrittener linken politischer Schattenwirtschaft nicht doch die hässliche Kehrseite dessen ist, was man als rundum “sinnliche Lebensfreude” eines ländlichen Katholokommunismus dort auf Straßen & in Dörfern alltäglich erlebt & was sich doch so wohltuend von dem deutschen Ordnungsprotestantismus unterschieden hatte.

Gleichwohl: weder wollte man in Italien je für länger ins Krankenhaus kommen oder mit der Bürokratie zu tun haben, noch mochte man die scheinbar so “liebenswerten” Kleinformen alltäglicher Korruption oder des regelmäßigen Steuerbetrugs einmal für längere Zeit erleben. Als es noch die “Benzingutscheine” in den Siebziger/Achtzigerjahre gab, hatte man ja sich selbst an deren zweckentfremdenden Verkauf beteiligt, also “mitgemacht“; und nur eine kurze Zeit, erinnere ich mich, wurde man im Lokal aufgefordert, die damals erstmals maschinenschriftlich ausgefertigte Restaurantrechnung bei der Hand zu behalten, wenn man das Lokal verließ – weil “Steuerprüfer unterwegs” seien. Aber nie ist mir einer übern Weg gelaufen (noch ich einem in die Arme) & längst ist man wieder zu den Hand geschriebenen Rechnungen übergegangen, die zur landesüblichen “schwarzen Kassenwirtschaft” gehören.

Als zeitweilig Einheimischer vor Ort

Es gibt also heute viele Gründe, “Auf der Suche nach Italien” zu sein & sich dabei dem 1952 geborenen Briten David Gilmour anzuvertrauen, der unter diesem Titel einen umfangreichen Band mit Essays vorgelegt hat, den Sonja Schumacher & Rita Seuss trefflich ins Deutsche übertragen haben.

Der Autor behauptet, lange in allen Provinzen Italiens gelebt zu haben, also als zeitweiliger Einheimischer vor Ort gewesen zu sein & seine weit ausgreifendenden Betrachtungen nicht nur aus der Lektüre italienischer & anderer europäischer Autoren aufgefüttert zu haben. Man kann ihm die nahe Vertrautheit mit Land & Leuten ruhigen Gewissens glauben, weil man sie dem Buch auf Schritt & Tritt anmerkt. Es ist fast “italienisch” in dem von ihm favorisierten Sinne – nämlich antizentristisch, widersprüchlich, separatistisch; und britisch in der geistigen Haltung, nur dem eigenen (Quer-) Kopf zu folgen, bzw. auch das geliebte Land am Mittelmeer immer wieder von der Insel aus in den kritischen Blick zu nehmen.

Wenn man Gilmour glauben will, ist das “Risorgimento”, die Einigung der italienischen Regionen zu dem heutigen Staat, gründlich & grundsätzlich misslungen, weil das Piemonteser Königreich rund um Turin durch den raffinierten Premier Cavour & den ungehobelten Vittorio Emmanuele II. die ihnen teils durch den fantastischen Enthusiasten Garibaldi, teils durch historische Morosität zugefallenen Landesteile weniger vereinten als nach ihren politischen Vorstellungen “eroberten”. Das wurde erst 1871 möglich, nachdem das Frankreich Napoleon III. – des Beschützers des mittelitalienisch beherrschenden, reaktionären Kirchenstaats – von Bismarcks Truppen geschlagen worden war. Die Preußen, die in Versailles den deutschen Kaiser installierten, schufen das Deutsche Reich aus einer ähnlichen territorialen Zersplitterung wie zeitgleich die Piemonteser das Königreich Italien: eine historische Parallelaktion & nationale Zwillingsgeburt, die dem Briten Gilmour jedoch kein Wort oder Gedanke wert ist – wenngleich ja beide Länder seit dem Untergang des “Imperium Romanum” dynastisch enger verbunden waren als alle anderen europäischen Länder. Aber mit dem stetigen Machtverfall des deutschen Kaisertums & ihres “Heiligen Römischen Reiches”, sprenkelte sich zuerst der “Stiefel” mit dem Kirchenstaat, seinen Königreichen, Fürstentümern & Stadtstaaten – wie dann Jahrhunderte später, vor allem nach der Reformation & dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, das Deutsche Reich zu einem Fleckenteppich aus Duodezfürstentümern etc. wurde.

Facettenreiches italienisches Kaleidoskop

Zurecht richtet Gilmour seinen Blick auf Florenz & Venedig – in jeder Hinsicht nachhaltig wirkungsvolle gesellschaftspolitische, ökonomische & kulturelle Glanzorte nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Beiden Städten gehört Gilmours besondere Liebe & Bewunderung. Die gilt auch Guiseppe Garibaldi – während er alle anderen Heroen des “Risorgimento” (deren Namen in jeder italienischen Gemeinde die Plätze & Straßen zieren) höchst kritisch betrachtet (vor allem den Verschwörer Mazzini, der durch sein weltfremde Ansichten der politischen Kräfteverhältnisse viele seiner aufständisch-aktive Sympathisanten in den sicheren Tod (ver)führte.

Auch Verdis Opernschaffen scheint für ihn die Rolle nicht gespielt zu haben, die ihm angeblich fälschlicherweise später angedichtet worden sein soll. Denn die Idee eines italienischen Nationalstaats sei nur bei einer (intellektuellen, politischen) Minderheit virulent gewesen. Selbst der Mussolinische Faschismus habe einen Nationalismus, wie er immer wieder in anderen europäischen Gesellschaften so mörderisch sich artikulierte, nicht hervorrufen können, meint der britische Autor, der sich vornehmlich für “die zentripetalen Tendenzen der Halbinsel interessiert” & ihnen ein Verständnis entgegenbringt, von dem man gelegentlich gern wüsste, ob er dergleichen Verständnis auch für die verwandten zentrifugalen Tendenzen auf den britischen Inseln heute aufbringt.

Gilmours facettenreiches italienisches Kaleidoskop gefällt einem wohl auch dort, wo er einem seine liebgewordenen (Vor-)Urteile durch seine Entschiedenheit madig macht – etwa, wenn er, im Gegensatz zu dem Bild, das Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem “Gattopardo” entwirft, ein aufgeklärteres, fortschrittlicheres “Königreich beider Sizilien” behauptet, das durch die “konservativere Rechts- & Wirtschaftsordnung” Piemonts, die ihm übergestülpt worden sei, erst in jene Rückschrittlichkeit erst geworfen worden sei, an der es noch heute kranke. Eine sehr gewagte These!

Kurz & gut: dieser kritische Liebhaber, den man im liberal-konservativen britischen Lager wohl verorten wird müssen, gewinnt einen immer wieder durch seine eminenten Recherchekenntnisse, durch seinen Darstellungswechsel von Großaufnahme & Panoramaschwenk & mit seinen kauzigen Humor für die abgelegensten Details & Kuriositäten.

Es ist ein angenehmes, herzerwärmendes, kopfdurchlüftendes Vergnügen, in diesen Tagen der fortgesetzten “Sorge um Italien” mit David Gilmour durch Städte, Regionen, Landschaften & die Historie der Halbinsel lesend zu wandern, staunend & kopfschüttelnd; aber immer gut gelaunt & gelegentlich vom trockenen “wit” des britischen Autors bezaubert.

Wolfram Schütte

David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuss, zahlreiche Abbildungen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2013. 464 Seiten. 27, 95 Euro.

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