Geschrieben am 20. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

David Foster Wallace: Kleines Mädchen mit komischen Haaren

Auf schmalem Grat zwischen Abbild und Wirklichkeit

Unbändige erzählerische Energie – „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ von David Foster Wallace.

Sein Sportsakko hat er auf dem Rodeo Drive gekauft, seine Krawatte trägt das Wappen der Westminster Militär-Akademie, sein Sportwagen hat Ledersitze und Sechsganggetriebe. Auch der Lebenslauf lässt sich sehen: Privatschule in Alexandria, Militär-Akademie, Business-School, Jura auf der Universität von Yale, ein Job in einer Anwaltskanzlei mit einem Jahresgehalt von über 100.000 Dollar. Wie kommt dieser seitengescheitelte, wohlpafümierte, konsumsüchtige Yuppie dazu, mit einer Horde Punks loszuziehen, die Stahlkappenstiefel und abgewetzte Lederklamotten zu Irokesen-Kämmen und lila Penis-Frisuren tragen? Und wieso nehmen die ihn bitteschön unter dem Namen „Sick Puppy“ in die Clique auf, wo er weder ihre Kleiderordnung einhält, noch über eine entsprechende Frisur verfügt, ja, nicht einmal die nihilistische Weltsicht teilt und weder arm noch verbittert ist?

David Foster Wallace schreckt weder vor gewagten Konstellationen, noch vor verrückten Sätzen, weder vor schrillen Bildern, noch vor überzeichneten Metaphern zurück. Und er tut gut daran. Die fünf Geschichten, die in dem Band „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ versammelt sind, strahlen eine unbändige erzählerische Energie aus. Hier zeigt jemand, was man mit Kurzgeschichten alles machen kann, wenn man nur das Naheliegende nutzt: die Kraft der Sprache. „Er ist einer der wenigen Schriftsteller, der die Grenzen der zeitgenössischen Literatur erweitern kann“, erklärt Don DeLillo. Foster Wallace selbst spricht – mit etwas weniger Pathos – von der Rekonstruktion der verlorengegangenen Wirklichkeit. „Heute, wo wir selbst beim Chinesen mexikanisch Essen können, während im Hintergrund Reggae läuft und im Fernsehen eine sowjetische Sendung über den Fall der Berliner Mauer, heute wo uns alles verdammt bekannt vorkommt, hat sich die Aufgabe des Realismus ebenfalls verwandelt.“

Dem neuen Realismus gehe es paradoxerweise genau darum, die Fremdheit in all dem Bekannten aufzudecken, so Wallace. Und um das zu erreichen, jongliert er mit allen Möglichkeiten der Literatur – ob mit klassischer Figurenzeichnung oder postmoderner Vielstimmigkeit, mit herkömmlichen Spannungsbögen oder der Montage von Presseschlagzeilen.

Doch bei aller Verspieltheit ist Wallace erstaunlich konsequent. So wiederholt er die Absurdität, die ein Yuppie unter einer Handvoll Punks auf einem Jazzkonzert darstellt, auch auf stilistischer Ebene: gestelzte und altbackene Formulierungen werden mit Punk- und Alltagsausdrücken verschmolzen. Sätze wie „Gimlet beschied der Dame umgehend, sie möge sich ins Knie ficken“ oder „Wir applizierten uns wechselseitig die Zunge in den Mund“ mögen einzeln vielleicht aufstoßen, in den übertriebenen Kontext der Geschichte reihen sie sich ohne Problem ein. Ebenso die synästhetischen Metaphern, die die LSD-verzerrte Wahrnehmung der Beteiligten dokumentieren. Und alles läuft in den schreienden Hintergründen zusammen, die das gestörte Verhalten des Yuppies erklären. Seine Kindheit war von seltsamen Erlebnissen geprägt, wie dem, als er angeregt durch die Pornohefte seines Bruders als Achtjähriger versuchte, „den Geschlechtsakt mit seiner zwei Jahre älteren Schwester zu vollziehen“, vom Vater erwischt und mit dem Ansengen des Penis bestraft wurde. Wenn er jetzt von der Lust getrieben ist, seine Punk-Freundin anzusengen (die ihre Haare pikanterweise zu einer Penis-Frisur aufstylt), dann ist das die Kompensation verdrängter Kindheitserlebnisse. Wenn er mit ihr in blutig-perversen Tötungsvisionen schwelgt, dann ist das seine Form der Auflehnung gegen den symbolischen Vater. Freud in Neon – entstellt und witzig, ironisch und effektiv: der Kern psychoanalytischer Zusammenhänge bleibt auch und gerade hinter den hanebüchenen Details erkennbar.

Obwohl inhaltlich nicht zu vereinheitlichen, umkreisen doch alle Geschichten des Bandes eine Urbild-Abbild-Thematik. Es geht um das Unwirkliche im Realen, das Wahre in der Fiktion. Den Schein im Sein und das Sein im Schein. Gleich zwei Geschichten befassen sich mit dem Fernsehen, dem Medium vorgeprägter Realitätsillusionen und Wirklichkeitstäuschungen schlechthin. In „Tiere sehen dich an“, einer der schönsten Geschichten des Bandes, geht es um die „Jeopardy“-Quiz-Show, die siebenhundert Folgen von einem einzigen Mädchen dominiert wird, das seine Kindheit mit dem Auswendiglernen von Lexika verbracht hat. Ein Sittengemälde der Showbranche, das die Beziehungen und Verflechtungen, Gefühle und Hoffnungen aller Beteiligten erzählt. Die Assistentin hat eine lesbische Affäre mit der Quiz-Queen, die Regisseurin ist die Frau des Ex-Manns der Produktionsleiterin. Ironischerweise wird die Ratequeen nach drei Jahren von ihrem eigenen Bruder aus der Sendung verdrängt, der seine teilweise Heilung vom Autismus in einer Privatklinik dem in der Show erspielten Geld seiner Schwester verdankt.

So wie in diesen Geschichten die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben verschwimmt, so in „John Billy“ die zwischen Traum und Wirklichkeit und in „Lyndon“, der Geschichte des homosexuellen Gehilfen von Präsident Johnson, die zwischen Geschichtsbild und persönlichem Eindruck. Die Thematisierung einer Talkshow, die die Strukturen einer Talkshow thematisiert, ist nur die logische Fortsetzung dieses Spiels mit den Wirklichkeits- und Seinsebenen. In „Mein Auftritt“ wird der Talkshowauftritt einer 40-jährigen Fernsehschauspielerin erzählt, die sich auch für Würstchenwerbung nicht zu schade ist. Ihr ebenfalls im Fernsehbusiness tätiger Ehemann, der den Auftritt für sehr viel wichtiger hält, drängt seine Frau, während der Show seinen per Ohrstöpsel zugeflüsterten Anweisungen zu folgen. Der Auftritt wird zwar zum Erfolg, aber im Anschluss eröffnen sich für sie einige unangenehme Wahrheiten über die Weltsicht ihres Mannes. „Ausschließlich darum geht es in der Sendung. Dass nämlich niemand so ist, wie er nach außen hin scheint“, erklärt dieser und ihr dämmert, dass er das nicht nur auf die Sendung bezieht. Angesichts der Erkenntnis, dass Täuschungen und Gegentäuschungen im Privaten und Öffentlichen nicht nur für ihren Mann das einzig Wahre sind, hat die Frau am Ende einen einzigen Wunsch: eine Frau zu sein, die immer ihre Meinung sagt. Das scheint in der Medienwelt von heute nicht leicht zu sein – aber doch möglich.

Foster Wallace ist kein Medienkritiker oder bodenloser Zyniker. Es gibt bei ihm mindestens so viel Hoffnung wie im normalen Leben auch, egal ob als Punk oder Schauspieler. Aber nicht deshalb sollte man ihn lesen, sondern weil seine Geschichten herrlich entstellte Wanderungen auf dem schmalen Grat zwischen Abbild und Wirklichkeit sind.

Markus Kuhn

David Foster Wallace: „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“. Kiepenheuer & Witsch, 254 S., 19, 50 Euro.