Geschrieben am 1. Januar 2006 von für Bücher, Litmag

David Foster Wallace: Der Besen im System

Sahnetorte für Diabetiker

Weniger wäre mehr gewesen – David Foster Wallace’ Erstling ist ein überlaufender Topf voller Skurrilitäten. Von Markus Kuhn

Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, weil er bei den „Weight-Watchers“ statt die angepeilten 50 Kilo abzunehmen 35 Kilo zugelegt hat, will sich der unendlich dicke, schwabblige Industrieboss Norman Bombardini erst recht alles einverleiben, was ihm in die Finger kommt.

So wie dieser unter all den seltsamen Figuren des Romans kaum auffallende Sonderling frisst, bis er aus allen Nähten platzt, hat der amerikanische Autor David Foster Wallace seinem Roman „Der Besen im System“ jede Geschichte einverleibt, die er irgendwo aufgeschnappt hat. Mit dem Resultat, dass sein Werk vor lauter Motiven, Ideen, Figuren und Skurrilitäten auseinanderzuplatzen droht wie besagter Bombardini vor lauter Kalorien.

Hier ein bisschen Highschool- und College-Milieu à la „American Pie“, da ein wenig Big-Business-Parodie. Hier ein bisschen Mediensatire, in der ein sprechender Papagei zum Star einer religiösen TV-Sendung wird. Da ein wenig Büro-Sitcom mit Sekretärinnenklatsch. Dazu eine ordentliche Portion Familienroman mit autoritären Vätern und zu Wahnsinn oder vorzeitigem Verfall neigenden Müttern. Und fertig ist … ja was eigentlich? Ein Roman? Eher ein wirres Sammelsurium verschieden guter, verschieden mitreißender Geschichten. Eine krankende Schilderung der am Medien- und Markenkonsum krankenden amerikanischen Gesellschaft.

Geschichten-Flut

Zusammengehalten werden soll das Ganze durch einen nur scheinbar spannenden Plot: Die 92-jährige Lenore Beadsman ist mit einigen Mitbewohnern und Pflegern unter mysteriösen Umständen aus dem Altenheim verschwunden. Die 24-jährige Lenore Beadsman, Urenkelin der Verschwundenen, nimmt die Verfolgung auf, weil Lenore senior das einzige Mitglied der Industriellenfamilie ist, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Die Suche nach der Verschollenen führt Lenore junior nicht nur auf die Spuren der dubiosen Geschäftspraktiken im Babynahrungsimperium ihres Vaters, sondern auch ins Innerste ihrer grausam zerstörten Familie.

Doch weder diese Rahmenhandlung noch markante Leitmotive schaffen es, die Flut an Geschichten zu kanalisieren, die den Roman überschwemmt. Schade, denn David Foster Wallace hat Talent. Sein Werk sprüht vor Erzähllust, ist ein buntes Mosaik verschiedenster Textsorten: Innere Monologe, Alltags- und Traumszenen, Protokolle von Psychotherapien und vor allem: viele nacherzählte Short-Stories. Denn der Geschäftsführer des Verlags Frequent & Vigorous, der sich unsterblich in Lenore junior verliebt hat, sie aber nicht körperlich befriedigen kann, erzählt ihr als Ersatz jede Nacht eine Geschichte. Vorrat hat er genug, weil ihm als Verlagsleiter deprimierte jugendliche Schreiber tagtäglich neues Lesefutter schicken. Darunter einige Perlen surreal angehauchter Erzählkunst, so als würde man Kafka ins Medienzeitalter beamen und mit Psychopharmaka vollstopfen.

Nachdem Wallace auf dem deutschen Markt mit der genialen Reisesatire „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ und zwei vielversprechenden Erzählbänden Fuß gefasst hat, wagt sein deutscher Verlag nun mit seinem Erstling „Der Besen im System“ ein Monstrum von über 600 Seiten nachzuschieben. Vielleicht fehlte dem damals 25-jährigen Wallace die Erfahrung, denn 200 Seiten weniger und einige konsequentere Erzählstränge mehr und aus diesem postmodernen literarischen Form- und Gesellschaftsspiel hätte eine bemerkenswerte Kapitalismus- und Mediensatire werden können.

Markus Kuhn

David Foster Wallace: Der Besen im System.
Aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay,
Kiepenheuer & Witsch Verlag 2004
Gebunden. 624 Seiten. 24,90 Euro.
ISBN 3-462-03407-3

22.11.2004