Geschrieben am 5. November 2014 von für Bücher, Litmag

David Cronenberg: Verzehrt

Cronenberg_verzehrt„Gerade krank genug, um gut zu sein“

–Mit 70 Jahren legt der mit Filmen wie „Die Fliege“ oder „Naked Lunch“ berühmt gewordene Regisseur David Cronenberg sein literarisches Debüt vor. Die spannende Frage dabei: Gelingt es ihm in der Schriftsprache wie in seiner Bildsprache eine suggestive Sogkraft zu entfalten und in magisch-dunkle Welten zu entführen? Von Karsten Herrmann.

Diese Frage ist zunächst einmal mit „Jein“ zu beantworten. In abwechselnden Wellenbewegungen enttäuscht und packt der Roman, der ohne Zweifel gut geschrieben ist, aber vom Plot her ziemlich krude erscheint.

Doch worum geht es? Cronenberg erzählt die Geschichte der Text- und Bild-Journalisten Naomi und Nathan, die „cyber-verheiratet“ sind und deren Flugbahnen um die Welt sich hin und wieder kreuzen. Ständig sind sie in virtueller Kommunikation und eingehüllt von Foto-, Audio- und Videotechnik und so erfassen sie die Welt auch in Form von Blenden, Blickwinkeln, Brennweiten und Schnitten.

Während Nathan in Ungarn eine illegale Brustkrebs-Behandlung dokumentiert, setzt sich Naomi auf die Spur eines Skandals, der Frankreich gerade erschüttert: Der berühmte und verschwundene Konsumismus-Philosoph Aristide Arosteguy soll seine ebenfalls berühmte Frau Célestine nicht nur grausam ermordet, sondern auch noch verspeist haben: „Die beiden waren ein französisches Ideal, das Philosophenpaar. Ihr Tod ist eine nationale Tragödie.“

David Cronenberg übertrifft sich in der weiteren Entwicklung des Romans mit Exkursen in abseitige wissenschaftlichen Felder und menschliche Abgründe, er balanciert auf der Schneide zwischen Wahn und Wirklichkeit. Zwischen Frankreich, Ungarn, Kanada und Japan geht es um das philosophische Thema des Konsumismus, der Liebe und Tod vereinigenden Einverleibung, es geht um Selbstverstümmelung, Geschlechtskrankheiten, Insekten, High-Tech-Hörgeräte, Nordkoreanische Verschwörungen und 3D-Drucker. „Es war gerade krank genug, um gut zu sein“, heißt es bezeichnenderweise so auch an einer Stelle im Roman.

Doch was zuweilen wie wahnwitzige Beliebigkeit und wie eine Provokation um der Provokation willen anmutet, wird von Cronenberg schließlich geschickt auf eine überraschende Auflösung hin zusammen geführt. Dahinter steckt die aktuelle Frage, wie wirklich unsere Wirklichkeit heute tatsächlich noch ist und inwieweit das Wirkliche und das Virtuelle, das Wirkliche und das Gefakte überhaupt noch zu unterscheiden sind.

Karsten Herrmann

David Cronenberg: Verzehrt. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. S. Fischer 2014. 398 Seiten. 22,99 Euro.

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