Mein Bruder?
Filip, ein nicht gerade erfolgreicher serbischer Gelegenheitsschriftsteller, erhält eines Tages einen Brief. Er ist über diesen Brief so perplex und sprachlos, dass er es für längere Zeit überhaupt nicht wagt, den Brief zu öffnen. Über mehrere Seiten zieht sich das Zögern und Zagen hin, bis er schließlich doch den Briefumschlag öffnet.
Es dürfte schwer sein, irgendwo in der Weltliteratur ein Buch zu finden, in dem mit einer so großen Genauigkeit das Zögern eines Menschen beschrieben werden, den an ihn adressierten Briefumschlag zu öffnen. Allein diese Seiten sind es wert, dieses Buch mit großer Konzentration und auch literarischem Genuss zu lesen. Geschrieben hat den Brief ein Mann, der sich als Bruder Robert von Filip ausgibt und heute in Argentinien lebt.
Aber von der Existenz eines Bruders hat Filip bislang überhaupt nichts gewusst. Er hat sogar eine Geschichte seines bisherigen Lebens geschrieben, in der seine Eltern und eine Schwester vorkommen, aber nicht ein Bruder. Wenn es stimmt, dass er einen Bruder hat, dann muss er ja seine ganze Autobiografie („Das Leben eines Verlierers“) neu schreiben?! Vielleicht ist er ja gar kein Verlierer, sondern ein Gewinner …? Durch diesen Brief gerät die gesamte Identität von Filip nach und nach ins Wanken. „Plötzlich sei sein Leben nicht mehr seines, plötzlich lebe er ein neues Leben, in dem er einen Bruder habe, ein Leben, das nicht nur seine Zukunft, sondern auch seine gesamte Vergangenheit verändere …“
Abrechnung mit den Eltern
Im zweiten Teil des Buches treffen sich die beiden Brüder in einem ehemals dunklen, heruntergekommenen Lokal in Belgrad, das heute zu einem Nobelrestaurant umgestaltet worden ist. Die Annäherung der beiden sich bislang unbekannten Brüder wird zu einem atemberaubenden literarischen Kammerstück, in dem zwei erwachsene Männer mit allen denkbaren Gefühlsausbrüchen ihre Identität als Bruder des jeweils anderen entdecken.
Bitterböse, aber auch sehr komisch rechnen die Brüder mit ihren Eltern ab bis hin zu der Forderung, man solle überhaupt alle Eltern abschaffen. „Nur weil sie einen zur Welt gebracht hätten, auch wenn niemand sie darum gebeten habe, sagte Filip, verlangten die Eltern von uns, ihnen ein Leben lang, sowohl ihres als auch das der Kinder, zu Diensten zu sein, und nach dem Ableben im Tod, forderten sie das noch mehr.“
Und so wie die beiden Hauptfiguren schließlich nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind, verliert auch der Leser immer mehr alle Sicherheiten in seinem Urteil über das Bruderpaar. Ist es eine Parabel auf den Untergang des alten Jugoslawien, auf die Zerstörung alter Familienstrukturen, auf die Sinnlosigkeit künstlerischen Schaffens?
Alle genannten Themen sind in diesem literarischen Meisterwerk – für dessen Übersetzung man auch Mirjana und Klaus Wittmann ein großes Lob aussprechen muss – enthalten. Ganz am Ende dann ein Schlüsselsatz des ganzen Buches: „Hinter Wörtern kann man sich verstecken wie hinter einen spanischen Wand. Schweigt man hingegen, ist man ohne jeden Schutz.“
Dass man den aus Belgrad stammenden, aber heute in Kanada lebenden David Albahari inzwischen zu den ganz großen zeitgenössischen Autoren Europas zählen muss, belegt auch dieser Roman erneut. Langsam wird es Zeit, ihn auch in den Kreis potenzieller Nobelpreiskandidaten aufzunehmen.
Carl Wilhelm Macke
David Albahari: Der Bruder (Brat, 2008). Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling & Co. Verlag 2012. 170 Seiten. 19,95 Euro. Foto: Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann, Creative Commons-Lizenz Namensnennung 2.0