Die „Bunte“ des Mittelalters
– „Bei diesem Professor hätte man gerne studiert!“ schreibt Birgit Haustedt, die Kurt Flaschs „Einladung, Dante zu lesen“ nachgekommen ist. Ihr Befund zu Flaschs Neuübersetzung der „Göttlichen Komödie“: Sehr gut lesbar, nicht gerade billig.
Zwei Jungs erklären in einem Film auf YouTube das Videospiel „Dantes Inferno“. „Nichts für schwache Nerven“, sagt der eine. „Eine tolle Story jedenfalls“, ergänzt der andere: „Sie stammt von einem gewissen Dante.“ Dass videospielende Computerfreaks den Begründer der italienischen Literatur nicht kennen, überrascht kaum. Aber auch Gebildeten sind Dante Alighieri und seine „Göttliche Komödie“ zwar ein Begriff, doch gelesen hat kaum jemand das umfangreiche Werk – wie eine kleine Umfrage in meinem Hamburger Freundeskreis mit vielen Akademikern ergab. „Müßte man eigentlich mal lesen…“, lautete die häufigste Antwort.
An solche Adressaten wendet sich Kurt Flasch mit seiner neuen Prosaübersetzung der „Göttlichen Komödie“ und einem Kommentarband, der „ausdrücklich kein Buch für Dante-Spezialisten“ ist, sondern eine „Einladung, Dante zu lesen“. Dafür bekam der renommierte Mittelalterforscher in der „ZEIT“ vom Dante-Spezialisten Karlheinz Stierle gleich einen auf den Deckel. „Grob vereinfachend“, so dessen vernichtendes Urteil. Denn „nur der geduldige, langsam vordringende und innehaltende Leser, den wiederholte Lektüren nicht schrecken,“ könne Zugang zu Dantes Werk gewinnen.
Wanderungen durch das Reich der Toten
Die „Göttliche Komödie“ ist heute tatsächlich nicht mehr auf Anhieb zu verstehen. Dabei ist die Haupt-Handlung, die Ostern 1300 spielt, in groben Zügen bekannt. Der Icherzähler Dante wandert durch das Reich der Toten. Mit seinem Führer, dem römischen Dichter Vergil, steigt er zunächst in die Hölle hinab, dann den Läuterungsberg hinauf, wo ihn die angebetete Beatrice abholt und in den Himmel führt. Kompliziert wird es dadurch, dass Dante auf seiner Wanderung ungefähr 600 Personen aus allen Zeiten und Texten trifft – Odysseus zum Beispiel, aber auch diverse Päpste, Könige, Kaiser und viele Zeitgenossen aus Florenz. Ein literarisch-theologisches Universum, das uns ebenso fremd ist wie die gereimte Erzählweise. Deutsche Vers-Übersetzungen sind dabei oft noch kryptischer als das italienische Original, wenn Dantes Terzinen – eine Reimform, die es im Deutschen nicht gibt – ohne Rücksicht auf Verständlichkeit ins Deutsche übertragen werden.
Um so gespannter war ich jetzt, ob es Flasch gelingt, Dante so zu übersetzen, dass man die „Divina Commedia“ versteht, auch ohne vorher antike Mythologie, Geschichte oder Theologie studiert zu haben. Der erste Leseeindruck: Zwar liest sich „Die Göttliche Komödie“ in der neuen Fassung nicht gerade wie Don Winslows „Tage der Toten“, aber nach anfänglichem Stolpern gerät man hinein in den Text und folgt Dante bereitwillig durch das Jenseits, auch wenn es immer wieder vieles gibt, was unverständlich bleibt. Zum ersten Mal habe ich bei Flasch längere Passagen der „Divina Commedia“ zusammenhängend lesen können, ohne gleich zu verzweifeln oder abzubrechen. Das liegt zunächst daran, dass Flasch Dante konsequent in einen durchlaufenden Text überträgt – im Unterschied zu anderen Prosaübersetzungen, die sich an das Schriftbild der Lyrik halten. Vor allem aber orientiert er sich bei seiner Übersetzung am Wissensstand heutiger Leser, auch wenn er dafür manchmal vom Original abweichen muß.
Wo die Wucherer zuhause sind
Ein Beispiel. Im 11. Gesang des „Inferno“ erklärt Vergil Dante und uns den Aufbau der Hölle und die Kategorien für die Strafen. Man erhält einen Art Lageplan der Hölle und einen ethisch-religiösen Leitfaden des Werkes. Je schwerer das Vergehen, desto tiefer in der Hölle landen die Sünder. Dante nimmt dabei eine durchaus eigenwillige Abstufung der Strafen vor. Ziemlich weit unten, im 7. Kreis, schmoren die Gewalttäter, die noch einmal dreifach unterteilt sind: in diejenigen, die Gewalt gegen andere übten, (Mörder), Gewalt gegen sich selbst (Selbstmörder). Ganz unten aber schmoren überraschenderweise diejenigen, die Gewalt gegen Gott und die Natur ausübten, ihre Verbrechen wiegen schwerer als Mord: Gotteslästerer und diejenigen, die aus „Soddoma e Caorsa“, aus Sodom und Cahors stammen.
Flasch übersetzt das mit „Sodomiten“ und „Wucherer“ und weicht damit deutlich von Dante ab. Die biblische Stadt Sodom, die Gott wegen sexueller Unzucht ihrer Bewohner vernichtete, galt früher als eine Umschreibung für „widernatürliche“ Sexualität und war vor allem Metapher für Homosexuelle, (von denen es – auch das erfährt man bei Dante – vor allem unter Priestern und Gelehrten viele gab). Die sexuelle Konnotation von Sodom kann man sich auch heute halbwegs erschließen. Aber wer weiß noch, dass die südfranzösische Stadt Cahors, im 13. Jahrhundert das Bank- und Börsenzentrum Europas, damals berühmt-berüchtigt war für ihre besonders geldgierigen Wucherer? Dantes Zeitgenossen verstanden die Anspielung und konnten sein raffiniertes literarisches Verfahren würdigen, wenn er das nach Sodom erwartbare alttestamentarische Gomorrha durch das moderne Cahors ersetzte.
Solche poetische Komplexität fällt bei Flasch unter den Tisch, insofern vereinfacht er tatsächlich, wie Stierle ihm vorwirft. Aber nicht nur zu unserem Nachteil. Denn wir Nicht-Spezialisten heute würden entweder darüber hinweg lesen oder müßten einen Umweg über die Anmerkung nehmen und wären raus aus dem Text. Insgesamt bleibt Flasch zurückhaltend bei der Wahl moderner Vokabeln, auch orientiert er sich an Dantes Satzbau. Das macht seine Übersetzung oft sperrig und umständlich, sie trägt – von ihm auch so beabsichtigt – Spuren eines siebenhundert Jahre alten Textes. Manchmal habe ich mir dann doch eine noch entschieden freiere und literarischere Übertragung in modernes Deutsch gewünscht.
Klatsch und Tratsch, Geschichten und Gerüchte
In der Regel übersetzt Flasch nah am Wortlaut. Wo Dante „merda“ schreibt, und andere Übersetzer das höflich mit „Kot“ umschreiben, übersetzt er wörtlich „Scheiße“. Damit trifft er einen Aspekt der durchaus drastischen Sprache Dantes. Dante war kein elitärer Autor, sonst hätte er auf Latein geschrieben. Statt dessen hat er als erster so gedichtet, wie das Volk damals sprach: im toskanischen Dialekt. Nicht Klerus und Hochadel waren seine Adressaten, sondern Bürger, Kaufleute, Händler, Handwerker.
Als im Jahr 1314 die ersten Kopien des „Inferno“ in Oberitalien zirkulierten, fühlten sich viele Mitbürger angesprochen. Für sie schilderte Dante in seinem Jenseitsbuch die Gegenwart. Sie kannten den arroganten Adligen Filippo Argenti oder den verfressenen Ciacco aus Florenz, sie wußten, dass Dante Papst Bonifatius VIII. meinte, wenn vom „Knecht der Knechte“ sprach, sie hatten davon gehört, dass Rusticucci von seiner Frau wegen seiner Knabenliebe angeschwärzt worden war. Klatsch und Tratsch, Geschichten und Gerüchte, die damals zirkulierten – auch das findet man in Dantes Divina Commedia; sie ist – neben vielem anderen – auch eine Art „Bunte“ des Mittelalters.
Weil wir viele der Namen und Geschichten heute nicht mehr kennen, kommt Flasch auch im eigentlichen Text nicht ohne Anmerkungen aus. Typographisch ist das gut gelöst: Die Kommentare sind in Burgunderrot neben den Haupttext gesetzt, somit leichter in den Lesefluß integrierbar. Zudem hat der Forscher sie relativ knapp gehalten. Im Vergleich: Bei vielen anderen Ausgaben gibt es gerne mal Seiten, die drei Zeilen Text enthalten, der Rest sind dann kleingedruckte Fußnoten. Überflüssig sind bei Flasch allerdings die vielen Verweise auf Übersetzungsprobleme und -varianten, weil man diese ohne das italienische Original sowieso nicht nachprüfen kann.
Das Paradies gewinn
Seine eigene Dante-Interpretation legt Flasch in einem großen Extraband vor, den er bescheiden „Dantologia povera“, eine ‚arme Dante-Deutung“, nennt, weil er vieles weglasse und sich nur auf Dantes Text beschränke. Das stimmt so nicht, auch er präsentiert viele Extrainformationen und Theorien, sein Kommentar ist durchaus anspruchsvoll – aber verständlich und gut lesbar. Lauter kleine Texte, manche kaum länger als zwei Seiten. Dabei geht der emeritierte Ordinarius für Philosophie didaktisch vor und beginnt mit dem, was uns heute am ehesten zugänglich ist: Textstellen, in denen Dante Gefühle wie Liebe und Haß schildert, von unglücklichen Leidenschaften berichtet oder zeigt, wohin grenzenloser Forscherdrang führt. Flasch unternimmt mehrmalige Lektüren einzelner Passagen, interpretiert, stellt sie in ihren historischen Kontext, erweitert den Horizont – auch im Blick auf manche Spezialdiskurse der Zeit wie zum Beispiel Astrologie. Man muß seine Interpretation und seine Vorlieben nicht teilen (z.B. hält er das „Paradies“ für den besten und literarisch gelungensten Teil der „Göttlichen Komödie“), aber es macht Spaß, diesen Kommentar zu lesen.
Flasch nimmt uns mit auf eine aufregende Forschungsreise in eine vergangene geistig-historisch-mythologische Landschaft. Obwohl manches so fremd wirkt wie ein exotischer Kontinent, kann man bei Dante, so wie Flasch ihn uns erklärt, viel über die Grundlagen unserer heutigen Welt erfahren, über die Anfänge des Kapitalismus in den Stadtstaaten Italiens, die Skrupellosigkeit geistiger und weltlicher Herrscher, aber auch über die Geschichte unserer Gefühle. Bei diesem Professor hätte man gern studiert!
Die beiden großformatigen Bände im prächtigen Schuber sind schön und übersichtlich gestaltet, hervorzuheben sind die elegant-filigranen Zeichnungen von Ruth Gesser. Alles in allem also eine sehr gelungene „Einladung, Dante zu lesen“. Leider keine billige. Mit einem Preis von 98 Euro ist diese „Dantologia povera“ nichts für Arme.
Birgit Haustedt
Dante Alighieri / Kurt Flasch: Commedia. Kassette mit zwei Bänden: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch. II.Einladung, Dante zu lesen. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2011, 736 Seiten, 98 Euro.