Die Entdeckung der Langsamkeit
– Vollgestopfte und Kontinente überbrückende Chartermaschinen, überfüllte Strände, All-inclusive-Hotelanlagen und mit klickenden Kameras von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzende Touristengruppen – so sieht das (Klischee-)Bild des modernen Tourismus aus, das schon den großen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin zu dem Ausspruch verleitete: „Tourismus ist eine Todsünde.“ Von Karsten Herrmann
Ganz in diesem Geiste stellt Dan Kieran in seinem Buch „Slow Travel“ eine andere Art des Reisens dar, die sich fernab vom „Zwangskorsett“ der Reiseführer und der damit verbundenen Touristenrouten abspielt. Erhellend zeigt er, wie die Sehnsucht so vieler Menschen nach einer Flucht aus dem Alltag in einer enttäuschenden Pauschalreise endet, von der nur die Fotos als eindimensionaler Beweis des Dagewesenseins übrigbleiben: „Fotografien zerstören den Bann, der im Geist geschieht und sich wandelt, während man älter wird.“ Im Gegensatz dazu hat Dan Kieran zwanzig Jahre nicht zuletzt auch auf Grund seiner Flugangst die Kunst des langsamen Reisens kultiviert und sich per Pedes und in unzähligen Nachtzügen, deren klackende Geräusche ihn nachts oftmals in den Schlaf lullten, durch Europa bewegt.
„Beim langsamen Reisen“, so Kieran, „geht es nicht um Tempo und Entfernungen, sondern um Reflexion und Tiefgang“. Und als die besten Reisebegleiter bezeichnet er so auch die „unausweichlichen Gedanken und Empfindungen der eigenen Seele“, die sich umso mehr und intensiver einstellen, je weiter man sich von Planung und Sicherheit entfernt und sich tatsächlich auf das Fremde einlässt.
Philosophie des Reisens
Die spiegelt sich auch in den – leider zum Teil etwas referierenden und damit ermüdenden – Beschreibungen seiner eigenen vielfältigen Reiseerlebnisse. Eine Initialzündung stellte dabei ein Trip mit einem gerade einmal flotte Schrittgeschwindigkeit erreichenden und reichlich unkomfortablen elektrischen Milchwagen durch England dar, bei dem Kieran und seine Freunde immer wieder auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen waren.
Der Autor untermauert seine Philosophie des Reisens mit zahlreichen Bezügen zu großen (Reise-)Schriftstellern wie Bruce Chatwin, Paul Theroux oder Stefan Zweig und entwirft en passant auch eine kleine Kulturgeschichte des Reisens. Spannend sind dabei seine Ausflüge in die Neurobiologie und Hirnforschung und deren Erkenntnisse, wie der Mensch wahrnimmt und denkt und auf welch diffizile Weise das Bewusste und das Unbewusste verschränkt sind.
„Slow Travel“ ist ein Buch, das den Wahnsinn des modernen Pauschaltourismus und die Chancen einer anderen Art des Reisens aufzeigt, die auch immer eine erkenntnisreiche Reise in das eigene Selbst ist und neue Zugänge zum Bewusstsein erschließen kann. Und letztlich gilt sowieso: „Das eigentliche Reisen findet im Kopf statt.“
Karsten Herrmann
Dan Kieran: Slow Travel. Die Kunst des Reisens. Berlin: Rogner & Bernhard Verlag 2013. 223 Seiten. 19,95 Euro