Geschrieben am 2. Juli 2011 von für Bücher, Crimemag

CrimeMag vor Ort – Stuart Neville: Die Schatten von Belfast

Killer, Kirchen und Neurosen

– Geht der Wahnsinn nun wieder los? Diese Gemetzel zwischen Protestanten und Katholiken in Belfast sollten doch längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sein? Gab es nicht Tony Blairs Strahlemann-Erfolg einer permanenten Aussöhnung? Und nun wieder diese idiotischen Straßenschlachten unter UVF, UDA, IRA, Sinn Fein-Anhängern usw.? Diesen Wahnsinn militanter Profilneurotiker hat der Autor Stuart Neville in seinen Noir-Krimis beschrieben. Henrike Heiland hat ihn jüngst bei CrimeMag literarisch gewürdigt (zur Rezension), Peter Münder war nun bei einer Ortsbesichtigung in Belfast.

Es mutet alles so Bullerbü-artig und harmlos-touristisch an: Der Flughafen ist nach dem Fußballer George Best benannt, man wird alle zehn Minuten auf irgendein Event, Jubiläum usw. hingewiesen, das irgendwie „Titanic“-affin ist, weil hier ja schließlich der bekanntermaßen unsinkbare Eisbrecher (bei Harland & Wolff) gebaut wurde – und nun noch dieses brandneue, bombastische Ulster Museum! Und wie liberal hier alle sind! Keine Gesichtskontrollen mehr am Kneipeneingang! Hier saufen jetzt sogar Papisten und Protestanten gemeinsam in einem Raum! Und in den Restaurants tummelt sich jetzt sogar gemischtes Publikum aller Konfessionen!

„Forget the past, forget the troubles“ scheint nun die Losung zu lauten. „Als wir unser Guesthouse eröffneten, wurden wir überall angepestet, gemobbt, verhöhnt – es war die Hölle“, erklären meine Wirtsleute in der Eglantine Road: Vor zehn Jahren, als sie ihre kleine Pension eröffneten, war ihre Mischehe (sie ist protestantisch, er katholisch) einfach ein unerhörter Skandal! Aber heute wird das toleriert – wenn das kein Grund ist, an die liberale Tradition des aufgeklärten Abendlandes zu glauben! Und wirkt hier nicht alles so schmuck? Die schönen Parks an der Queen´s University, all die gepflegten Kathedralen, Kirchen und Zentralen diverser Sekten, nicht zu vergessen die rund ein Dutzend Buchläden, die sich dann bei näherer Betrachtung während eines Zehnminuten-Rundgangs entlang der University Road und Bedford Street als Methodisten-, Presbyterianer- oder Lutheraner-Bookshops entpuppen. Hier stehen flotte Welt-Bestseller wie etwa John Bunyans „Pilgrim´s Progress“ von 1687 gleich vorne im Eingangsbereich; in Belfast ist eben immer Bibelstunde, Sekten-Meeting, Gemeindeversammlung, Missionarstreffen, auch die Mormonen in ihren schnieken Anzügen mit den  dezenten Namenschildern wittern hier Morgenluft.

Kleine Rundfahrt gefällig?

Zu all den schönen, farbenprächtigen, riesigen Wandmalereien, vor denen sich japanische, französische und amerikanische Touristen in Scharen ablichten lassen? In Viertel, die man auf den ersten Blick als katholisch (Marien-Motive) und protestantisch (Union Jack) identifiziert, was dem Besucher dank des behaglichen Wiedererkennungseffekts ein dumpfes, wohliges Gefühl vermittelt wie in der Bronx, wo kriminelle Banden ihre Reviere mit ihren speziellen Graffiti ja auch als Claims abgesteckt haben. Hier in Belfast haben sie ihre Heroen, Hungerkünstler wie Bobby Sands oder andere Märtyrer, die im Kampf gegen böse Briten, brutale Polizisten, gnadenlose IRA-Banditen u.a. gefallen sind, im Großbildformat auf Häuserwände und Mauern gemalt.

Und um diesen Kult etwas aufzupeppen und dem Ganzen den Nimbus aufrechter pazifistischer Gesinnung zu verleihen, findet man auch ein überdimensionales Guernica-Gemälde zwischen diesen prächtigen Murals – inklusive der obligatorischen Picasso-Taube. Die staunenden Pilger, die diese bunten „Heiligenbilder“ bewundern, fühlen sich offenbar nach Lourdes versetzt. Jedenfalls führen sie sich auf, als würden Lahme und Leprakranke nach Betrachtung dieser Bilder, die ja nichts weiter darstellen als verklärenden Agitprop-Kitsch , sofort wieder kerngesund.  Hier kocht jeder sein scharfes ideologisches Süppchen: Die militanten IRA- und Sinn Fein-Anhänger  haben ihr Grabmal für verstorbene Straßenkämpfer mit gälischen Namen und Lettern verziert, die royalistischen Ulster-Gemälde sind sofort an der roten Ulster-Hand oder am Union Jack zu erkennen.

Wir stehen mit Stuart Neville und dem Taxifahrer und Touristenführer Billy Scott vor diesen Murals und versuchen irgendwie eine Übersicht über die unterschiedlichen Absichten und Programme all dieser fanatischen Splittergrüppchen zu bekommen, als Billy kurz und trocken befindet: „Da müßt ihr doch nicht lange grübeln und  theoretisieren – diese Gruppierungen mögen ja früher  noch halbwegs nachvollziehbare politische Absichten gehegt haben – jetzt sind das alles nur noch Drogendealer, Waffenhändler oder andere Kriminelle, die sich hier in ihren Revieren behaupten wollen und sich in mafiösen Strukturen organisiert haben, um ihre Areale zu verteidigen“.

Neville

So eine pragmatisch-zynische Sicht der Dinge pflegt auch Stuart Neville. Seine Hauptfigur Gerry Fegan ist ein eiskalter Killer, der für seinen Boss Auftragsmorde erledigt hat, doch nun von Alpträumen, Schuldgefühlen und Schimären heimgesucht wird, die seine Skrupel und Schuldkomplexe verkörpern und ihn dazu bringen, all die umzubringen, die ihn damals zu diesen insgesamt zwölf Morden angestiftet hatten – „The Twelve“ lautet daher auch der Originaltitel. Fegan  hat zwölf Jahre Knast im Maze als „politischer Gefangener“ abgesessen und kommt nun nicht mehr mit den veränderten Verhältnissen klar: Die Typen, die eben noch wie die übelsten Mafia-Killer gewütet hatten und dementsprechend geächtet waren, geben sich nun als seriöse politische Entscheidungsträger in Stormont und faseln über Mitverantwortung  und Parteienproporz! So ertränkt Fegan seine Komplexe im Whiskey, er tendiert zum larmoyanten Selbstmitleid, erfüllt jedoch die Aufforderungen der gespenstischen Figuren, die ihn verfolgen und zum Mord seiner ehemaligen Auftraggeber anstiften. Der Plot wird daher ziemlich berechenbar, doch  als Leser kann man die Rachegefühle des Killers nachvollziehen, der sich als Erfüllungsgehilfe hypertropher Scharlatane instrumentalisiert sieht und plötzlich mit einem verpfuschten Leben konfrontiert wird. Dabei hatte Fegan doch schon als 18-jähriger eine „Reputation“ besessen: Damals hatte er am helllichten Tag vor einer Schule und vor Dutzenden von Zeugen einen Vater erschossen, der seinen Sohn von der Schule abholen wollte – einfach nur so. Sein Opfer hatte er nicht gekannt. Aber so macht man  eben Karriere in Killer-Kreisen.

Wenn man den bärtigen Neville fragt, wie stark ihn die politischen Konflikte und Hintergründe während der blutigen Auseinandersetzungen interessierten oder zum Schreiben  seiner Krimis angeregt haben, dann antwortet er nur kurz und lakonisch, dass all das eigentlich nur Beiwerk war: „Ich will hier weder Partei ergreifen noch billige Schwarzweißmalerei betreiben“, meint er, „der Leser  kann ja selbst entscheiden, mit welcher Figur er sympathisieren will“. Der 39jährige Neville ist eigentlich Musiker und Computer-Nerd und hat länger für einen Designer von Internet-Seiten gearbeitet. Vor drei oder vier Jahren schrieb er eine Kurzgeschichte, die seine Freunde toll fanden – die stellte er ins Internet und dann rief ihn plötzlich ein amerikanischer Literaturagent an, mit dem er ins Geschäft kam, als er ein schlüssiges Exposé für einen Roman und weitere Kapitel vorzeigen konnte. Inzwischen geht es auch um Filmangebote: Vor kurzem hatte ihn der Ruf aus Hollywood ereilt – aber Neville will keine voreiligen Jubelschreie anstimmen.

Anti-Helden

Er zeigt in „Die Schatten von Belfast“ und im zweiten, noch nicht übersetzten Band „Collusion“ mit drastischen Mitteln, wie sich Gewalt verselbstständigt und als alltägliche Routine empfunden wird. Die geisterhaften Symbolfiguren, die als Inkarnation der Schuldgefühle seines Anti-Helden durch den Roman geistern, erscheinen manchmal zu mechanistisch und wirken fast schon wie ein automatischer Stimulus-Respons-Reflex, wenn einer dieser Schatten, die Fegan überall hin verfolgen, auf ein neues Opfer zeigt: Bald darauf zieht Fegan seine Knarre und bereitet dieser Figur dann den Exitus.

Neville gelingt es aber, die Verlogenheit der profilneurotischen Politiker zu zeigen, die Doppelmoral von „Freiheitskämpfern“ zu beleuchten, die gleichzeitig als Doppelagenten für die andere Seite arbeiten und sich ein hübsches Zubrot mit ihrer Spitzel-Tätigkeit verdienen. Sogar Polizisten und Anwälte (großartig: der Schleimer Patsy Toner!) machen bei diesen Verrätereien mit. Jedenfalls zieht Neville mit dem rasanten Plot und knallharten Dialogen den Leser in einen unwiderstehlichen Sog. Ihm sei es übrigens völlig schnurz, erklärt er beim längeren Gespräch im Krimi-Bookshop „No Alibis“ an der Botanic Avenue, ob man seine Bücher nun als Politkrimi, Thriller oder sonstwie bezeichnet: „Wem helfen diese Label denn schon weiter?“ Überhaupt will Stuart Neville sich lieber bedeckt halten und sich von den  üblichen Rastern und Lager-Mentalitäten distanzieren, wenn man ihn nach Zukunftsperspektiven oder der weiteren Entwicklung in Nord-Irland fragt. Die heile Welt einer konfliktfreien Zone in Ulster sieht er jedenfalls nicht. Sein zweiter Band „Collusion“, in dem Gerry Fegan wieder im Mittelpunkt steht, beschreibt eine noch blutigere Rache-Orgie, nachdem die Tochter von Kommissar Jack Lennon entführt wird und es zum Showdown auf der Farm des skrupellosen O´Kane kommt.

Noir sind Nevilles Bücher, Noir scheint auch seine Lebensmaxime zu sein. Aber die zynisch-pragmatische Perspektive des Autors sorgt auch für einen Prozess der Desillusion, der  Heldenkult und eine Verklärung krimineller Sektierer gar nicht erst aufkommen lässt. Und trotzdem: Auch ein Killer verdiene eine zweite Chance, meint Neville. „Und wer sieht sich selbst schon als übler Verbrecher? Zeigt nicht jeder auch menschliche Züge und hofft auf Vergebung?“ Aber damit driften wir schon wieder ab in das Terrain, das hier offenbar am liebsten und intensivsten von Sektierern und Kirchenleuten beackert wird. Die jetzt wieder entbrannten Straßenschlachten sind offenbar nur als Reaktion auf die Gründung einer Art nordirischen Birthler-Behörde zu verstehen, die sich um die  kritische Aufklärung vergangener Verbrechen kümmern soll. Doch diese Form der Vergangenheitsbewältigung hatten die Iren ja noch nie goutieren können: Die Osterunruhen gegen die Briten von 1916 sind  bei Katholiken ebenso wenig vergessen wie bei den Protestanten Wilhelm III. von Oranien, der 1690 in der Schlacht am Boyne den katholischen Monarchen James II. bezwang. Spätestens im Juli, wenn die protestantischen Orangemen mit ihren Märschen durch die Katholikenviertel wieder an diesen historischen Etappensieg erinnern und dann wieder  einmal die Fetzen fliegen, werden wir wieder mit dieser irischen Misere konfrontiert. Diese fundamentalistische Rechthaberei, die mit historischer Aufarbeitung nix zu tun hat, erinnert  doch fatal an den mittelalterlichen, rückwärtsgerichteten Moralkodex der Taliban – mitten in Europa, im 21. Jahrhundert. Man denkt unwillkürlich an James Joyce und sein treffendes  Verdikt: „Irland ist die Sau, die ihre eigenen Jungen gefressen hat“.

Peter Münder

Stuart Neville:  Die Schatten von Belfast (Collusion, 2010). Deutsch von Armin Gontermann. Berlin: Rütten & Loening 2011. 442 Seiten. 19,95 Euro. Die Homepage von Stuart Neville finden Sie hier. Fotos: Peter Münder.

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