No way out
Wir befinden uns in einem Dorf namens Elend. Das Dorf liegt im Harz, am Fuße des Brocken, es sind die 60er-Jahre, wir sind in der DDR. Hier wächst ein Kind auf, dessen Namen wir nicht kennen. Der Erzähler nennt es No. Von TINA MANSKE
Niemand hat in diesem Roman einen Namen, der Vater heißt Vater und die Mutter heißt Mutter. No hat Geschwister, die auch keine Namen besitzen. Diese Namenslosigkeit ist Programm: Die Figuren in Christoph D. Brummes Roman „No“ sind Platzhalter für Figuren im System, für eine tiefergehende Beschäftigung mit ihrer Identität ist kein Platz. Der Vater, Lehrer an einer Schule in einem anderen Dorf und studierter Psychologe, ist der geborene Duckmäuser: Einerseits lässt er keine Gelegenheit aus, besserwisserisch gegen „die da oben“ zu wettern, wenn es aber ernst wird, dann haut er lieber ab, statt sich der Situation zu stellen. Zuhause aber ist er der uneingeschränkte Boss, da züchtigt er seine Kinder auf brutale Art und Weise. Wenn No lesen lernt, ist das mit jedem Buchstaben ein Kampf gegen die Schläge, die ihm drohen, wenn er versagt. Manchmal wird er auch in den Keller gesteckt, da kann er besser darüber nachdenken, was er jetzt schon wieder falsch gemacht hat.
„No“ bietet auf sehr unprätentiöse Weise einen Einblick in die Stimmung, die in einer Diktatur herrscht – nicht nur in einer staatlichen, sondern auch in der innerfamiliären Diktatur. Die Mutter, die No manchmal anlächelt und weiß, was er durchmacht, fühlt sich nicht in der Lage ihm mit Taten beizustehen. Sie ist das Klischee des schwachen Mitläufers. Diese Kleinfamilie lebt in einem durch und durch kleinbürgerlichen Milieu, so eingeengt, dass einem schon beim Zuhören die Luft wegbleibt vor lauter Muff. Brumme gelingt es in seinem Roman, die DDR durch kleine Gesten zum Leben zu erwecken. Die Grenzlage des Dorfes wird niemals explizit erwähnt, sie scheint lediglich auf in Geschichten um Grenzverletzer oder im Gebell der Wachhunde, das No manchmal hören kann.
Heilung durch Literatur?
Hilfe findet No, der sich mit dem Lesenlernen so schwer tut, dann aber doch in der Literatur. Mit ihr kommt auch das Wissen – was aber nicht immer alles besser macht. „Er wusste inzwischen, dass der Name Elend nicht von dem Elend kam, obwohl man das glauben konnte, weil das Nachbardorf Sorge hieß. Elend hieß früher ‚eli-lenti‘. Das war Altes Deutsch und hieß ‚in der Fremde, im Ausland‘. Die Mönche, die von der anderen Seite des Gebirges aus nach Rom gepilgert waren und hier zum ersten Mal nächtigten, hatten diesen Ort so genannt. Ein Dorf, das Elend hieß, aber eigentlich im Ausland, so dass jeder, der hier wohnte im Elend und im Ausland lebte. Ein Elender war ein Fremdling und ein Fremdling war ein Elender.“
Corinna Harfouch liest diese beeindruckende Geschichte mit viel Sprachwitz und ohne jegliches falsches Pathos. Manchmal blitzt sogar ein böser Witz auf – das sind die besonders guten Stellen.
Titelangaben:
Christoph D. Brumme: No. Gelesen von Corinna Harfouch. 5 CDs, Laufzeit: ca. 300 Minuten.
Dittrich Verlag 2008. Preis: 22,80 Euro.