Geschrieben am 21. September 2009 von für Bücher, Litmag

Colum McCann: die grosse welt

Pulsierende Großstadt-Sinfonie

Spätestens mit diesem Roman hat sich der 44-jährige Colum McCann in der internationalen Riege der großen Erzähler etabliert, stellt Karsten Herrmann fest.

Am Morgen des 7. August 1974 balancierte der Franzose Philippe Petit in über 400 Metern Höhe auf einem Drahtseil ohne Netz und doppelten Boden zwischen den Twin Towers des World Trade Centers hin und her. Colum McCann nimmt dieses Ereignis – zu dem Anfang des Jahres auch ein Oscar-prämierter Dokumentarfilm erschien – zum atemberaubenden Ausgangspunkt seines Großstadtepos’ die grosse welt.

„Seit vielen Jahren“, so Colum McCann, „wollte ich über diesen Drahtseilakt schreiben. Ich wollte aber nicht einfach in Petits Schuhe steigen, sondern in die der Menschen auf der Straße, in die Schuhe der Stadt, in die Schuhe der Zeit.“ Der gebürtige und heute in New York lebende Ire tut dies mit der Stadt als Pulsgeber und in einem ständigen Perspektivwechsel zwischen rund einem halben Dutzend Protagonisten, die durch die aufsehenerregende Performance des Philippe Petit miteinander verbunden werden. McCann führt den Leser quer durch alle Höhen und Tiefen der Stadt und der Zeit: In den Sümpfen der Bronx verrichtet so zum Beispiel der in Dublin aufgewachsene Pater Corrigan sein urchristliches Werk der Nächstenliebe und wird zum Anker der Huren und Gefallenen, die ihn selber in die Tiefe zu ziehen drohen: „Er hatte immer schon getan, was die Niedrigsten taten. Es war das Mantra seines Glaubens.“ In einem Penthouse an der Park Avenue trauert Claire, die Frau des desillusionierten Richters Salomon, um ihren im Vietnam-Krieg gefallenen Sohn, einen frühen Visionär des Computer- und Internetzeitalters. Und nach einem Leben auf der Überholspur versuchen die Avantgarde-Künstler Lara und Blaine „zurück zum Augenblick radikaler Unschuld zu kommen“. Doch stattdessen werden sie nach einer Vernissage in einen Unfall verwickelt, und es kommt der „Augenblick, wo alles aus dem Gleichgewicht geraten ist und jede Merkwürdigkeit einen Sinn zu haben scheint“.

Durchdringung von Zeit und Geschichte

Spätestens mit diesem Roman hat sich der 44-jährige Colum McCann in der internationalen Riege der großen Erzähler etabliert. Mit starker Empathie ist er ganz dicht dran an seinen Figuren, schmiegt sich in „ihre Schuhe“ ein und verknüpft die Einzelschicksale in geschickter Dramaturgie miteinander. Mit leichter Hand fängt er dabei auch die widerstreitenden Diskurse, Ideen und Gefühlslagen ein einer Gesellschaft voller höchster Widersprüche, zwischen Aufbruch und Vietnam-Depression. die grosse welt ist eine vielstimmige, ebenso tragische wie beglückende Großstadtsinfonie voller wunderbarer Momente, es ist eine Hommage des erst später Zugewanderten an das pulsierende und flirrende New York der 70er.

Im Hinblick auf 9/11 und die nachträglich noch einmal potenzierte Symbolkraft des Drahtseilakts trifft in diesem Roman, so McCann, auch „ein kleiner Fetzen Geschichte … auf einen größeren. Als würde der Mann auf dem Seil irgendwie vorwegnehmen was später geschah. Die Durchdringung von Zeit und Geschichte. Der Punkt, an dem Geschichten miteinander kollidieren“.

Karsten Herrmann

Colum McCann: Die große Welt (Let the Great World Spin, 2009).
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
Berlin: Rowohlt Verlag 2009. 544 Seiten. 19,90 Euro.