Geschrieben am 8. Dezember 2012 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Moving Targets – Filme aus dem Genre: TATORT „Todesschütze“ & „Borgen – Gefährliche Seilschaften“

Zweimal Fernsehen:
der 852. Tatort und die dänische Politserie „Borgen“

– von Alf Mayer. Einschaltquoten von sieben bis zehn Millionen, der „Tatort“ im Ersten Deutschen Fernsehen ist Kult. Allein jetzt im Dezember 2012 laufen über 70 Wiederholungen quer durch alle ARD-Programme. Dagegen aufzumucken – sinnlos. Mich persönlich interessiert die allermeist lachhaft an irgendwelchen Filmsets begehbar eingerichtete Realität wenig, mit denen 90 Prozent der „Tatorte“ sich über die Runden hangeln. „Tatort“-Gucken ist weitgehend eine bessere Form des Zeittotschlagens, irgendwelche deutschen Volontäre vor und hinter der Kamera üben sich in der halbgaren Nachahmung anderswo längst erreichter Fernsehstandards.

Wenn ich nur all die Lebenszeit zurückhätte, in der ich Pseudo-„Kommissaren“ beim Ein- und Ausparken zuschauen musste, wie sie sich auf eine Haustür zubewegen, dort klingeln, sich ordentlich mit Ausweis vorstellen – „Guten Tag, Kommissar Arsch, ARD-Tatort. Kann ich Ihnen eine Frage stellen?“ bis „Ja, dann auf Wiedersehen, Herr Zeuge …“ – dann wieder Auto aufschließen, Blinker setzen, ausparken, vor dem niemals wie ein Polizeigebäude aussehenden Kommissariat wieder einparken, aussteigen, Achtung! Anschlussfehler: andere Klamotten als beim Einsteigen, die Treppen hochgehen, sich an ihren Schreibtisch hocken, irgendeinen Chef haben, der irgendwas von „der Minister (ersatzweise: Staatsanwalt, Oberstaatsanwalt) macht Druck“ faselt … und 20.000 solchen, im deutschen Fernsehen für Realität gehaltenen bedeutungslosen Unsinn und handlungsirrelevanter Zeitstehlerei mehr, eine besondere Spezialität auch der ins Bild gerückte Anrufbeantworter mit „Guten Tag, Kommissar Arsch, ARD-Tatort. Wir würden Ihnen gerne eine Frage stellen. Kommen Sie doch auf dem Kommissariat vorbei“ …

Todesschütze – Tatort 852 / ARD 02.12.2012, 20:15 Uhr

Wenn ich all diese Lebenszeit zurückhätte, dann hätte die ARD am Sonntag, 2. Dezember 2012, nicht bereits den 852. „Tatort“ senden können, sondern wäre noch mit der ordentlichen Dramaturgie für Nr. 462 beschäftigt. 852 „Tatorte“ für je, was kostet einer inzwischen? 1,5 bis 2,5 Mio Euro?, mindestens zwei satte Gebührenmilliarden werden also mittlerweile dafür verbraten. Da könnte sich ja auch vielleicht langsam ein Standard herausbilden. Warum schlafen mir dabei aber so oft die Füße ein, krümmen sich die Zehennägel? Meine Güte, was dürfen wir in anderen Krimi-Serien an verdichteter Erzählweise sehen, nehmen wir nur englische wie etwa „Banks“ oder „Luther“? Wie wirbeln uns solche forciert und avanciert vorgetragenen FERNSEH-Serien doch die eigene Weltanschauung und Weltsicht durcheinander, während wir beim deutschen „Tatort“ unseren Kreislauf als Sesselfurzer auf niedrig reguliert bekommen und man auch noch beim Gang zum Kühlschrank der Handlung akustisch folgen kann: „Guten Tag, Kommissar Arsch, ARD-Tatort. Wir würden Sie gerne als Zeugen befragen, wenn Sie einverstanden sind … Ja gerne, nehmen Sie doch Platz, Herr Kommissar …“

Mummenschanz: Wenn das Material gewinnt …

Tatort Nr. 852 also, der 15. schon aus einem Leipzig, in dem niemand Sächsisch spricht, mit Eva Saalfeld (Simone Thomalla) und Andreas Keppler (Martin Wuttke), beide Hauptkommissare, was ja wieder ein wenig Drehzeit einspart, weil alleine die Anreden („Guten Tag, Hauptkommissar Keppler …“) ein paar Sekunden herausschinden. Ich blieb dran, zum einen weil ich Wuttke vor vielen Jahren im Frankfurter Schauspiel als Hamlet erlebte und mich das auf Jahrzehnte beeindruckt hat, zum anderen weil der Einstieg für 20:15 Uhr im Fernsehen völlig überraschend einen beinah dokumentarischen Charakter hatte.

Drei junge Rowdys in der Straßenbahn terrorisieren die Mitfahrenden (mit allerdings ein paar Schnitten, Gegenschüssen und Einstellungen zu viel), eine Ehefrau muckt auf, ihr Mann schweigt. Beide steigen aus. Die Tür schließt sich, da fährt ein Stiefel dazwischen, auch die drei steigen aus, schlagen das Ehepaar zusammen. Eine Streifenwagenbesatzung kommt hinzu, einer der Polizisten nimmt die Verfolgung auf, während der andere sich um die Verletzten kümmert. Die Schläger entkommen, die Frau liegt schwerverletzt im Koma und stirbt dann, die Mordkommission, „Guten Tag, Hauptkommissar Arsch, ARD-Tatort …“, ermittelt. Einer der drei Verdächtigen ist der Sohn jenes Streifenpolizisten, der den Tätern hinterhersetzte und sie nicht erkannt haben will, er deckt ihn und mauert bei den Ermittlungen.

Wotan Wilke Möhring ist ein fähiger Schauspieler, der dem Polizisten Phillip Rahn Glaubwürdigkeit zu geben vermag im Konflikt Vater sein oder Polizist. Zunehmend aber gewinnt die übliche „Tatort“-Soße Oberhand. Papierdialoge mit Holzschnitthandlung. Der Großschauspieler Stefan Kurt (ehemals als verdeckter Ermittler der „Schattenmann“) darf als rachedurstiger Ehemann René Winkler einige völlig überflüssig lang ausgespielte Schmieren-Szenen hinlegen, etwa wie er ausführlichst weint und klagt nach dem Tod seiner Frau. Die Erzählperspektiven wechseln sprunghaft, ein klassischer Trick, um dramaturgisch alle Register ziehen zu können, wenn auch unter Preisgabe jeder Stringenz und Wahrheit.

Was realitätstüchtig begann, entgleitet zusehends in die Beliebigkeit und ins Klischee, wo dann auch ein Scharfschützengewehr aus dem Gully gezogen und den bisherigen einigermaßen realitätsnahen Plot ins sinnfreie Nirwana befördern kann. Der kapuzentragende Hauptrowdy Marcel Degner (Antonio Wannek), als abgewrackter Arbeitsloser eigentlich interessant und tauglich genug für allerlei kriminelle Energie, war dann plötzlich auch mal bei der Bundeswehr und dort ein guter Schütze. Er erpresst den Streifenpolzisten Rahn mit einem Handyvideo, auf dem der eine Kellnerin bumst (!!!, ist so etwas erpressungstauglich??).

Schließlich stößt die Dramaturgie die Kommissare und die in der ersten Erzählhälfte aufgeblätterten Psychogramme zugunsten einer plötzlichen Geiselnahme beiseite, bei der dann ein vermummter, anonym bleibender Polizei-Scharfschütze die Regie übernimmt und den Bösewicht der Erzählung mit einem gezielten Todesschuss ausschaltet – auch das, sorry, Blödsinn. Eine Fernsehredaktion im SEK-Rausch, die zur Verfügung gestellten Mummenschanz-Polizeikräfte müssen ja auch irgendwie eingesetzt werden, auch wenn es noch so deppert ist. Michael Bay (der von „Bad Boys“ u. a.) hat dieses Problem auch: Material-Overkill. Also ein ganz normaler „Tatort“. Regie der „Tatort“-Routinier Johannes Grieser (sein siebter Film in dieser Reihe), Drehbuch von Mario Giordano und  Andreas Schlüter, ebenfalls keine Unbeleckten. „Versendet sich“, sagen sie beim Fernsehen.

„Borgen“ („Gefährliche Seilschaften“) – derzeit donnerstags auf Arte

So gut wie nie ein Auto ein- und ausparken sieht man hingegen in der dänischen Fernsehserie „Borgen“ („Gefährliche Seilschaften“), deren zweite Staffel gerade donnerstags auf „arte“ läuft. Arte entwickelt sich zunehmend zu einem Auffangbecken von eigentlich in einem anderen Planetensystem als dem deutschen Öffentlich-Rechtlichen mit Fug und Recht zur Hauptsendezeit ausgestrahlten Qualitätsserien. Die erste zehnteilige Staffel von Borgen stammt von 2010, die jetzige zweite von 2011, eine dritte Staffel ist für das Frühjahr 2013 angekündigt – in Dänemark, damit wir uns hier richtig verstehen. Weder ARD noch ZDF planen einen Übernahme, Arte reicht.

Die Serie kreist um die erste weibliche Premierministerin des Landes, Birgitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen), deren Familie zerbricht, um ihren jungen illusionslosen Spindoktor Kasper Juul (Pilou Asbæk) und die idealistische TV-Journalistin Katrine Fønsmark (Birgitte Hjort Sørensen). Genauso wenig, wie man sich eine Fernsehserie mit Angela Merkel vorstellen kann, gäbe es in Deutschland wohl auch genügend qualifiziertes Personal für eine solch ambitionierte, genau hinschauende und in allem Handwerklichen absolut demütige, aber höchstklassige Serienarbeit.

Man stelle sich vor, man müsse drei Folgen von … xyz … (bitte setzen Sie hier ihre deutsche Lieblingsserie ein) hintereinanderweg sehen – mit „Borgen“ auf Arte wird das ein Fernsehabend auf höchstem Niveau. Die Drehbuchautoren Adam Price, Jeppe Gjervig Gram und Tobias Lindholm, die Regisseure Søren Kragh-Jabobsen, Annette K. Olesen, Rumle Hammerich und Mikkel Nørgaard und eine durchgehend höchstklassige Darstellerriege liefern Fernsehen zum Niederknien. Danke, Dänemark. Vielleicht sagt das ja manchmal auch Martin Wuttke, wenn er nicht an sich als „Tatort“-Kommissar, sondern als „Hamlet“ denkt.

Alf Mayer

Tatort „Todesschütze“ in der ARD-Mediathek. „Gefährliche Seilschaften“ nach-sehen auf arte+7.

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