Familienbande
Ein Familienalbum, ein Wiedersehen mit vielen Bekannten, das ist Jürgen Müllers „Die besten TV-Serien“ schon auf den ersten Blick. Aber das Querformat mit den Maßen der in jeder Hinsicht schwergewichtigen Monographien aus dem Hause Taschen über Kubrick, Bergman und aktuell Chaplin leistet mehr. Es ist ein vier Kilo schwerer Beweis, wie weit TV-Serien es an kulturellem Prestige mittlerweile gebracht haben. Kaum ein Filmfestival mag inzwischen mehr auf sie verzichten, nicht überall wird darauf so klug rekurriert wie in Braunschweig (2. – 8. Nov. 2015, mehr hier) wo die erste in Deutschland gezeigte Retrospektive von H.P. Lovecraft-Verfilmungen dem Raunen vom „König in Gelb“ und anderen mystischen Untertönen in der TV-Serie „True Detective“ (zu einem CM-Essay, Staffel 1) den film- und kulturhistorischen Hintergrund beackert.
Nun also „Taschens Auswahl der letzten 25 Jahre“ in Sachen „Die besten TV-Serien“, herausgegeben von Jürgen Müller, der an der TU Dresden Mittlere und Neuere Kunstgeschichte lehrt und bei Taschen die Dekaden-Filmbuchreihe verantwortet (Filme der 20er, 30er usw.). Es ist ein wahrer Klotz von Buch, 744 Seiten, 32,7 cm breit und 24,5 cm hoch, ausgesucht schön illustriert, die sehr lesbaren Texte von 30 ausgewiesenen Kennern der Materie verfasst, darunter die beiden Cargo-Autoren Bert Rebhandl und Simon Rothöhler. Der letztere leistet bei Diaphanes als Herausgeber der TV-Serienreihe „booklet“ Vorbildliches in Sachen Serienbegleitung. (Siehe auch die Literaturhinweise im Paralleltext „Die Großen und die Kleinen“.)
Filmliteratur 2.0
Die kleinformatige booklet-Reihe ist Teil einer neuen publizistischen Bewegung: Die Filmliteratur ist (fast) tot, es lebe die TV-Serienliteratur. Während die Verkaufszahlen für Filmbücher weiter sinken, eine detaillierte Bestandsaufnahme etwa des Werks von Clint Eastwoods anlässlich seines 85. Geburtstages kaum mehr einen Hund hinter dem Ofen hervorlockt, Buchhandlungen ihre Filmabteilungen mit Musik und Showbizz zusammenlegen – ein Regalmeter hierzu ist ja dort inzwischen schon sehr viel –, hissen einige Verleger, ihr Gemütszustand tapfer bis trotzig, neue Flagge. Jenseits reiner Fan-Produktionen á la „Game of Thrones von A bis Z“ beackern sie das weite Feld der Fernsehserien. Sie agieren hier als kulturelle Avantgarde. Aber nicht nur Verleger Dieter F. Bertz, der unter anderem Daniela Sannwalds spannende „Mad Men“-Analyse „Lost in the Sixties“ im Programm hat, sieht den Markt für solche Bücher als schwierig an: „Das Interesse verlagert sich schnell. Man muss den richtigen Zeitpunkt erwischen.“
Ob Taschen mit seinem voluminösen Werk viele Käufer findet, muss sich erst noch zeigen, die gleichzeitigen Auflagen in Englisch, Französisch und Spanisch mindern Kosten und verlegerisches Risiko. Als der kleine und feine Wiesbadener Verlag Luxbooks im Februar 2014 eines der wichtigsten Bücher in Sachen TV-Serien herausbrachte, nämlich Alan Sepinwalls „Die Revolution war im Fernsehen. Essays zu den Fernsehserien Sopranos, Mad Men, 24, Lost, Breaking Bad, The Wire, Deadwood, Buffy, The Shield, u. a.“, war zwar das Rezensenten-Interesse groß, der Markterfolg jedoch eher leider bescheiden. Antiquarisch wird das Buch inzwischen ab rund 70 Euro gehandelt. Die „Süddeutsche“ urteilte: „Der beste US-Serienblogger verrät unerreicht detailgetreu, wie ein Dutzend TV-Serien binnen 15 Jahren den Fernseher zum Kino gemacht haben.“ Sepinwall, dessen Blog „Whats Alan Watching“ unverändert hohe Reichweiten hat, schreibt in seinem Buch äußerst informiert über die Transformation des Fernsehens durch die neue Art von Serien. Seine Zusammenhänge sind auch die, innerhalb deren das Taschen-Buch argumentiert. Sepinwalls langjährige Pionierarbeit hat offenkundig das Wissen und das Auge vieler Autoren geschärft, die heute über TV-Serien schreiben. Ein kleiner Literaturhinweis hätte dem Taschen-Buch gewiss gut angestanden. Dies als Vorbemerkung.
„We are family“ – und das mehr denn de
„Welcome to the Family“ heißt das Vorwort von Jürgen Müller und Steffen Haubner, es ist üppig mit den Bildern der Eingangssequenz der zweiten Staffel von „Breaking Bad“ illustriert. Die beiden Autoren unternehmen es, mit der Schilderung und Analyse jener verstörenden, erst in der letzten Folge dieser Staffel aufgelösten Bildfolge, das qualitativ neue Erzählen in heutigen Serien anschaulich zu machen. Kurz die Stichworte: verwaister Swimmingpool, bleierne Luft, Wasserschlauch, Windspiel, Schnecke auf Steinmauer, ein aus der Tiefe aufsteigendes Plüschtier im Pool, ein Bär in schrillem Pink und mit nur einem Auge; das andere auf den Strudel der Filteranlage zutreibend. All das hat letztendlich mit Familie zu tun. Wie die Serien auch. Immer noch. Und heute erst recht.
Fernsehen, das war einmal das Lagerfeuer. Heute sitzt man alleine oder zu zweit davor, bestenfalls mit Freunden, wenn es nicht ohnehin nur PC oder Tablet ist. Schon am Arbeitsplatz findet sich kaum jemand mehr mit der gleichen Seherfahrung des Vorabends. Das nonlineare Fernsehen ist Realität geworden, es ist, was uns Betamax & Co bereits in den 1980er versprachen – jeder sein eigener Programmdirektor. Keine von allen erlebten Straßenfeger mehr, eine Unterhaltung übers Fernsehen – und vor allem über Serien – nähert sich der über das Lesen an. Man weiß vielleicht noch, dass es dies und jenes Buch gerade gibt, gab oder geben wird, aber die mit ihm gemachte Erfahrung aktuell zu teilen, das wird zum Glücksfall, wie es auch der ist, sich mit jemandem „frisch“ über eine bestimmte Serie austauschen zu können. Umso notwendiger die frei zugängliche Reflexion in Schriftform, wie wir sie auf CM pflegen. We are family, das gilt heute in einem erweiterten Umfang.
So viele Serien, so viele Episoden, so viele Sendestunden, wo haben die ihre gemeinsame Nenner? Nun, eben in der Familie. Nur ist die nicht mehr die Idylle der frühen seriellen Fernsehunterhaltung, deren Keimzelle die Westernserie war. In der klassischen Familienserie konnte sich jeder Zuschauer unter den Protagonisten genau jenes Familienmitglied auszusuchen, das zu ihm passte. Heute sind wir viele, die Familien ebenso zersplittert wie manche Identität oder die Interessen, das Publikum heterogen, der Rezeptionsrahmen unberechenbar, die Reflexionsebenen höchst unterschiedlich. Also haben die avancierten (und künstlerisch erfolgreichen) Serien sich in den letzten 25 Jahren eben jene Heterogenität zum Thema gemacht. Nach wie vor kann jeder Zuschauer einen oder gar mehrere identifikationsstiftende Charaktere finden, nur eben in extremerer Hinsicht als das in den alten Serien der Fall war. „Auf den Common Sense vergangener Zeiten kann niemand mehr bauen. Die Kernfamilie, die früher im Zentrum stand, ist einem zu immer neuen Konstellationen zusammengesetzten Figurenfundus gewichen, in dem sich das Publikum respektive die Gesellschaft selbst wie in einem Spiegel reflektieren kann“, schreiben Müller und Haubner. Die Familie ist geblieben, nur ist das nicht mehr der alte Verbund. An dieser Grenzlinie operiert auch ein verhältnismäßig mittleres Produkt wie die schwedische Familienserie „Blutsbande“.
Aus Zuschauern werden Komplizen
Alle Ausformungen von „Familie“ sind nun erlaubt, anything goes. Serien heute richten sich explizit an ein erwachsenes Publikum, sie „können Szenen physischer oder psychischer Gewalt enthalten“, wie es bei arte heißt. Konventions- und Tabubrüche gehören zum Repertoire. An die Stelle einer Familie tritt oft eine größere und vielfältigere Bezugs- und/oder Beziehungsgruppe, seien es die Bewohner des „Boardwalk Empire“ (zur CM-Besprechung), von „Deadwood“ oder Baltimore in „The Wire“ (zur CM-Besprechung), die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in „Lost“, die Gefängnisinsassen in „OZ“, „Orange ist he New Black“ oder „Prison Break“, die Bürogemeinschaft der „Mad Men“ (zur CM-Besprechung), die vom Krieg zusammengewürfelte „Band of Brothers“ oder „The Walking Dead“ (zur CM-Besprechung).
Die „Familien“ der neuen Serien zeigen die Zerrissenheit wie auch die Vielfalt der modernen Gesellschaft. Mehr als je aber ist aus der Zuschauer- eine Komplizenschaft geworden. Es hat konspirativen Charakter, den Figuren – und seien sie noch so extrem – zu folgen, ihre Motive und ihre Entwicklung verstehen und tolerieren zu lernen. Als Keim für alle späteren „High-Quality-TV-Formate“ macht das Taschen-Buch David Lynchs Serie „Das Geheimnis von Twin Peaks“ (1990-91, zwei Staffeln, 30 Folgen) aus. „Ein Meilenstein der Fernsehgeschichte, ein kühner Blick auf die Dimensionen, die dem Medium erzählerisch und gestalterisch innenwohnen“, nennt Bernd Zywietz dieses in einer heute kaum mehr vorstellbare Weise popkulturelle und bahnbrechende Fernsehereignis der frühen 1990er Jahre. „Twin Peaks“ faszinierte und forderte das Publikum, „adressierte die Menschen vor dem Fernseher mit einem Augenzwinkern und verführte sie zur Auseinandersetzung mit seinen Bildern und seiner Musik, seinen Figuren und Geschichten, sodass man von dieser Serie vom Nullpunkt des modernen Kult-TV sprechen kann“. Nur eine Serie ist im Buch „Twin Peaks“ vorgeschaltet: die 1989 begonnen „Simpsons“, bis heute auf 26 Staffeln und 564 Folgen angewachsen und in Sachen subversiver Familiengefüge ein Kronzeuge des neuen Erzählens, ebenso wie „Seinfeld“, die Serie Nr. 3 im Buch, „eine Sitcom über nichts“.
Bis auf die animierten Mangas finden in der Taschen-Auswahl all die seriellen Genres ihre herausragenden Vertreter, die Texte weisen je über das Einzelbeispiel hinaus – unterstützt von einer Spaß und Sinn machenden Zitat- und einer hochklassigen Bildauswahl. Das Profil von „Deadwood“ etwa, der einzigen erwähnten Westernserie, leistet den Rückblick auf das einst fernsehprägende Genre; Heinz-Jürgen Köhler, der Autor des Beitrags, nimmt die Serie als Exempel epischen Erzählens. Überraschend und lehrreich, was Ivo Ritzer dem Historienspektakel „Rom“ abgewinnt (2005-07, 2 Staffeln, 22 Folgen). In seinem zugehörigen Porträt von John Milius, der treibenden Kreativkraft hinter der Serie, arbeitet er dessen Hang zur nietzscheanischen Männlichkeitsidealisierung und Faszination an Machtstrukturen heraus, zieht Analogien zwischen dem Römischen Reich und den USA, sieht die Serie zwischen Verherrlichung und kritisch-kühler Schilderung von Hybris, Dekadenz und Korruption – ein für das Werk von John Milius typischer Schwebezustand.
Der CSI-Shot und andere Besonderheiten
Hier aber nun der ausdrückliche Hinweis: Dieses Buch ist kein Lexikon. Wohl aber hat es einen enzyklopädischen Ansatz. Insgesamt 68 idealtypische TV-Serien werden auf meist je zehn Seiten vorgestellt. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Crime-Serien. Mit dabei: Die Sopranos, The Shield – Gesetz der Gewalt, The Wire, Homicide, 24, Boardwalk Empire, Das Geheimnis von Twin Peaks, OZ – Hölle hinter Gittern, CSI: Den Tätern auf der Spur, Deadwood, Boston Legal, The Closer, Dexter, Breaking Bad, Homeland, House of Cards, Top of the Lake (zur CM-Besprechung), Hannibal, The Bridge, Orange is the New Black, True Detective, Revenge und die James McCain-Miniserie Mildred Pierce. Jedes Serien-Porträt schließt mit einem „Glossar“ genannten Text. Das können Porträts von Kreativen sein, etwa von Shawn Ryan (bei The Shield), David Chase (bei den Sopranos), David Simon (The Wire) oder der Sitcom-Schöpfer Chuck Lorre (Two and a Half Men), filmspezifische Themen wie Voice-Over (Veronica Mars), die Rückblende (HIMYM), der Schnitt (Damages), Cameo (Entourage), Mockumentary (Parks and Recreation), das Ensemble (Orange ist he New Black), der Vorspann (Mad Men), das
Framing (anhand von Todd Haynes Mildred Pierce), der CSI-Shot, eine extreme (digitale) Kamerafahrt ins Körperinnere oder das Durchbrechen der vierten Wand, wenn der Hauptdarsteller sich wie in House of Cards direkt an die Zuschauer wendet.
Gewiss und unweigerlich wird jeder Leser seine persönlichen Fehlstellen entdecken. Eine deutsche Serie kommt nicht vor, aus Europa sind ganze drei an Bord: Lars van Triers Geister (Riget, von 1994 und 1997, 2 Staffeln), das ebenfalls dänische „Borgen – Gefährliche Seilschaften“ (3 Staffeln, 30 Folgen, zu einer CM-Besprechung) mit immerhin einem Exkurs über dänische TV-Serien, und die britische „Downton Abbey“ (5 Staffeln, 39 Folgen, 4 Weihnachts-Specials). Der gewaltige Rest, also 65 von 68 Porträts, gilt US-Serien. Auch „Die Brücke“ (zur CM-Besprechung von Staffel 1, Staffel 2 und The Bridge) taucht nur als amerikanisches Remake auf, mit Rekurs auf die skandinavische Vorlage. Der Anteil Großbritanniens am neuen Fernseherzählen, gerade im Bereich der Mini-Serien, bleibt deutlich unterbelichtet. Dass der Fokus so ein eindeutig auf Amerika liegt, mag zu einem gewissen Teil der internationalen Vermarktungsstrategie des Taschen Verlages geschuldet sein, verweist aber auch noch einmal auf die nicht hoch genug zu schätzende Vorarbeit von Alan Sepinwall. Ein solch üppig illustriertes Werk zu einem Preis von 49,90 Euro wäre als rein deutsches Unterfangen nicht darstellbar, insofern können kleinere Verlage von solcherart ausgestatteten Büchern nur träumen. (Hier geht es zum Parallelartikel „Die Großen und die Kleinen“.)
Alf Mayer
Jürgen Müller: Die besten TV-Serien. Taschens Auswahl der letzten 25 Jahre. 744 Seiten, 32,7 x 24,5 cm, viele Abbildungen. Taschen Verlag 2015. 49,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.