Geschrieben am 15. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Claude Simon: Die Trambahn

Mit der Straßenbahn in die verlorene Zeit

Die Magie der Erinnerung – Der 88-jährige französische Nobelpreisträger folgt den Spuren seines Gedächtnisses.

Ein Mann liegt im Krankenhaus und erinnert sich: an seine Kindheit zwischen den Weltkriegen im südfranzösischen Perpignan, an seine todkranke Mutter, eine verbitterte Kriegswitwe, an die grell lockenden Plakate des Lichtspielhauses, das er nicht betreten durfte und an die Straßenbahnfahrten, bei denen er es genoss, im Fahrerhaus stehen bleiben zu dürfen.

Viel mehr geschieht nicht. Claude Simons „Die Trambahn“ kommt – wie seine Romane aus den 60‘ern und 70‘ern und viele Werke des Nouveau Roman – ohne eigentliche Handlung aus. Es ist ein Buch über einzelne Erinnerungen und die Erinnerung an sich. In minutiösen, präzisen Beschreibungen wird eine verlorene Kindheit eingeholt und mit ihr eine untergegangene Epoche. Einzelnen Farbtönungen, Geräuschen und Gerüchen spürt der detailbesessene Text aufs genaueste nach. Assoziationsketten erstrecken sich über rhythmisierte, nicht enden wollende Satzkonstruktionen voller literarischer Anspielungen. Das ist äußerst mühsam zu lesen und ganz sicher nicht nebenbei zu bewältigen. Etwas für Liebhaber bild- und sprachgewaltiger Texte, die sich viel Zeit für eine genaue Lektüre nehmen können. Diejenigen aber, „die ein Buch lesen, um zu erfahren, ob die Baronin am Ende den Grafen heiratet, werden enttäuscht sein“.

Von der Endstation vor dem Filmpalast in der Stadt, vorbei an den „Rumpfmännern“, den Kriegsinvaliden auf ihren Wägelchen und den Villen der Provinzbourgeoisie bis hinunter zum mondänen Badestrand verbindet die Straßenbahnlinie nicht nur die Stationen der Stadt, auch die der Erinnerung. Die Beschreibungen der Haltestellen und Fahrgäste, des Fahrkartenschaffners und der Triebwagen führen zu den Belle-Époque-Bauwerken der Stadt und ihren architektonischen Gegenbewegungen, zu den bizarren Mitgliedern der gehobenen „Gesellschaft“, den Klubbesuchern mit ihren Maitressen, den Verwandten und Freunden des Erzählers bis hin zu konkreten Szenen seiner Kindheit – etwa wie der Junge morgens sein Frühstück stehen lassen musste, um die Trambahn zur Schule zu erreichen: „ … worauf ich meinen Ranzen nahm, durch den Garten rannte, dann durch die mit Maulbeerbäumen bestandene Allee, den Kopf nach links gewandt, mit den Augen dem schnell sich nähernden Stromabnehmer folgend, der zunächst als einziges zu sehen war über den purpurroten oder rosafarbenen Weinbergen des Herbstes, aus denen nach und nach das auf einer Seite des Dachs entlanglaufende Reklameschild der Nouvelle Galeries auftauchte, dann bald darauf der nun völlig sichtbare Triebwagen, der zu schnell fuhr, dann langsamer wurde, schließlich am Fuß der großen Pinie anhielt, die das Ende der Allee anzeigte und wo meist schon zwei oder drei mit Körben beladene Frauen warteten, die ich vor mir einsteigen und im Innern auf den Bänken Platz nehmen ließ, während ich auf jenem privilegierten Platz im Fahrerhaus stehenblieb.“

Die Dichte und Fülle der Simon’schen Sprache lässt die Vergangenheit aufleben, ohne sie mit der Patina sentimentaler Verklärung zu überziehen. Trotzdem verhindert sie nicht, dass die Melancholie einer verlorenen Welt zwischen den Zeilen auflodert – im Gegenteil, durch Motive und Lichtstimmungen fordert Simon eine gewisse Wehmut geradezu heraus. Darin liegt einer der Hauptunterschiede dieses schmalen Werkes des 88-jährigen Nobelpreisträgers zum Nouveau Roman: ihm fehlt die kühle Zurückhaltung, die Verweigerung klarer Bedeutungszuweisung, die radikale Abkehr von der Eindeutigkeit.

Ein alter Mann liegt im Krankenhaus und folgt den Spuren seines Gedächtnisses bis in die frühesten Jahre. Während in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ der Geschmack eines in den Tee getunkten Madeleine-Törtchens die entscheidende Brücke in die Vergangenheit darstellt, ist es hier die Trambahn (die sich ohne weiteres als Allegorie des Lebensweges verstehen lässt). Der Vergleich mit Proust ist kein Zufall – Simon setzt sich in „Die Trambahn“ sehr genau mit der Erinnerungsartistik in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ auseinander. „Die Trambahn“, eine Extraktversion des Proust’schen Mammutwerks? Vielleicht ja. In jedem Fall ein anspruchsvoller, beeindruckender Text, den man genussvoll lesen oder angestrengt beiseite legen kann.

Textauszug:

Im Fahrerhaus stehenzubleiben (durch das man übrigens gehen musste, um in die Trambahn zu gelangen), statt sich im Innern auf die Bänke zu setzen, schien nicht nur für meinen kindlichen Verstand so etwas wie ein Privileg zu sein, sondern offenkundig auch für die zwei oder drei Fahrgäste, die sich, ebenfalls die Bänke verschmähend, regelmäßig dort aufhielten, sicherlich nicht wie ich von der Bedeutsamkeit des Orts durchdrungen, sondern nur weil man dort rauchen durfte, nach dem Beispiel des Fahrers, der anscheinend wortkarg war – oder zum Schweigen genötigt, wovon ein in einem approximativen Frankoenglisch die Inschrift zeugte: „Nicht mit dem Wattmann sprechen“, die ihn in gewisser Weise einerseits zu einer recht armseligen, zu stummer Einsamkeit verurteilten Person einer niederen Kaste stempelte und andererseits mit einer Aura von Macht umgab, wie jene Könige oder Potentaten der Tragödien, die direkt anzusprechen durch ein strenges Protokoll (und manchmal bei Todesstrafe) verboten war, eine Stellung (oder Position – oder Funktion), deren er sich mit Würde entledigte, das Auge unverwandt auf die Schienen gerichtet, die ihm entgegenkamen, wie von der Last seiner Verantwortung in Anspruch genommen, sich an den Haltestellen damit begnügend, während er auf das befreiende Klingelzeichen des Schaffners wartete, mit Hilfe eines eisernen Feuerzeuges die Kippe wieder anzuzünden, die ihm die ganze Strecke lang an der Unterlippe klebte, …

Markus Kuhn

Claude Simon: „Die Trambahn“. DuMont Verlag, 113 Seiten, 17,90 Euro.