Geschrieben am 23. April 2014 von für Bücher, Litmag

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen/Der Lüster

Lispector-Clarice-Nahe-dem-wilden-HerzenLesen und Schreiben mit dem Körper

– Christiane Quandt über zwei Romane der brasilianischen Autorin Clarice Lispector und über Joana und Virgínia, zwei ungewöhnliche Frauenfiguren und die Protagonistinnen von „Nahe dem wilden Herzen“ und „Der Lüster“.

Im Nachklang der Frankfurter Buchmesse kommen immer mehr brasilianische Autorinnen und Autoren in Übersetzung auf den deutschen Buchmarkt, und das völlig zu Recht, denn darunter finden sich wahre Perlen der Literatur. Doch kommen nicht nur neue Texte in die Hände der Übersetzer, sondern es werden auch ältere Klassiker ausgegraben, die schon einmal übersetzt wurden, um sie zu überarbeiten und neu aufzulegen. Von Clarice Lispector, der Grande Dame der brasilianischen Literatur, erscheint beim Schöffling-Verlag seit Herbst 2013 eine Werkausgabe, deren erste Titel „Nahe dem wilden Herzen“ und „Der Lüster“ seit September desselben Jahres auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich sind. Im selben Verlag, ergänzend zu den Primärtexten, erschien auch „Clarice Lispector: eine Biographie“ von dem US-amerikanischen Historiker und Literaturwissenschaftler Benjamin Moser (siehe CM-Rezension vom 11.12.13).

Die Prosa Lispectors ruft nicht so sehr Ereignisse oder Geschichten auf den Plan, vielmehr bewegen sich die Erzählinstanzen auf einer Bewusstseinsebene unterhalb der hellwachen. Ihre Texte drehen sich um Erfahrungen zumeist weiblicher Figuren, die sich in einer Sphäre erlebter und gefühlter Zeitlichkeit und Dinglichkeit bewegen und deren textueller Ausdruck eine schwer beschreibbare Anziehungskraft besitzt. „Nahe dem wilden Herzen“, der erste Roman der ukrainischstämmigen Autorin, die sehr früh im Leben nach Brasilien kam, erschien in Brasilien 1943 und wurde 1981 erstmals von Ray-Güde Mertin ins Deutsche übersetzt. Die neue Ausgabe bei Schöffling ist von Corinna Santa Cruz überarbeitet (auf Basis der brasilianischen Erstausgabe) und beeindruckt durch Präzision und Sprachgefühl.

Die Protagonistin Joana erlebt Dinge, die nicht unbedingt ungewöhnlich sind für eine junge Frau im Brasilien der 1940er Jahre. Nach dem Tod des Vaters wächst die Waise bei einer abstoßenden Tante auf, heiratet später Otávio, der sie wiederum nach einigen Ehejahren wegen seiner nun schwangeren ersten Braut Lídia verlässt. Sehr nah am Inneren der Figuren schreitet der Text in emotionalen Bildern voran, zeichnet Gefühlslandschaften und lässt den Leser eher spüren als verstehen, was in den Figuren und deren Beziehungsgeflecht vorgeht. Diese poetische Prosa wird auch in „Der Lüster“ offenbar, erstmals 2013 von Luis Ruby ins Deutsche übersetzt, wo in ähnlicher Weise das von Abhängigkeiten und der Suche nach einem Ausweg geprägte Leben von Virgínia zum Leser hin fließt.

Virgínia und ihr Bruder Daniel teilen ein Geheimnis, das sie aneinander schweißt. Dem von Anfang an dominanteren Daniel gelingt es, als die beiden in die Stadt gezogen sind, sich durch Heirat zu emanzipieren, doch Virgínia kämpft weiter um Liebe und Verständnis und bleibt trotz ihrer Liebesbeziehung zu Vicente allein in der Welt. Erst durch die spontane Rückkehr auf den elterlichen Hof „Granja Quieta“, wo sie mit Daniel und der älteren Schwester Esmeralda ihre Kindheit verbrachte, wird sie sich ihrer Liebe zu Vicente bewusst und erlebt eine Art epiphanische Erlösung. Es wird ihr klar, dass die Kindheit verloren ist, die Heimat aber stets die Heimat bleibt, und so fährt sie, verändert, wieder in die Stadt zurück. Bevor sie jedoch ihr neues altes Leben weiterführen kann, stirbt sie bei einem Autounfall. Ob dies enigmatische Ende als erlösend oder absurd gelesen wird, liegt bei den Lesern.

„Er war allein. Er war verlassen, glücklich, nahe dem wilden Herzen des Lebens.“ (James Joyce)

„Nahe dem wilden Herzen“ wird durch einen titelgebenden Epigraphen eingeleitet, der dem Erstlingswerk von James Joyce „Portrait des Künstler als junger Mann“ (übersetzt von Friedhelm Rathjen) entnommen ist. Wie immer ist dieser Epigraph nicht unschuldig gewählt, denn es lassen sich im Text auf den unterschiedlichsten Ebenen intertextuelle Verweise und Bezüge auf Joyce erkennen. Während Joyce‘ Roman jedoch eindeutig zu den „klassischen“ (männlichen) Bildungsromanen gezählt wird, an deren Ende ein gestandener junger Mann in die Welt hinaus geht, wurde Clarice Lispectors Romanerstling völlig zu Recht als „anderer“ oder gar „feministischer“ Coming of Age-Roman gelesen.

Neben der Tatsache, dass es sich bei Joana um eine weibliche Protagonistin handelt, wird auch auf textueller Ebene die „klassische“, männlich besetzte logische und lineare Struktur der großen Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kunstvoll und immer wieder unterlaufen. Zwar weisen die Lebensstationen und -prüfungen von Joyce‘ Stephen Dedalus und Lispectors Joana oberflächlich einige Ähnlichkeiten auf – man denke nur an die Internatserfahrungen beider und „Das Bad“ bei Lispector, das seine Entsprechung in Stephens unfreiwilligem Bad im Wassergraben findet – doch ist bei Lispector stets eine tiefe Skepsis gegenüber den gängigen Lebens- und Erklärungsmodellen zu spüren, die sich neben dem „anderen“ Erzählen in einem faszinierenden Anderssein und Anders-Erleben Joanas ausdrücken.

Und da die Werte einer bürgerlichen Gesellschaft durch diese andere Form des Erzählens bereits als Orientierung völlig nutzlos geworden sind, wird die Frage nach einem „gelungenen“ oder „misslungenen“ Coming of Age nebensächlich bis irrelevant. Joana erlebt. Joana fühlt. Joana spürt. Joana betet, ohne es zu merken (dies Gebet mag auch als Verweis auf Joyce gelesen werden). Möglicherweise wird sie dabei „erwachsen“ und entwickelt eigene Vorstellungen, einen eigenen Willen, ein Selbstbewusstsein, doch darauf kommt es nicht primär an. Es kommt auf dieses Spüren, Fühlen, Erleben an, das beim Lesen mit dem eigenen Körper nacherlebt werden kann.

Der Text eröffnet Zugänge zum Denken einer heranwachsenden Frau, die sonst selten in der Literatur zu finden sind. Doch ist der Text dabei nicht bitterernst, sondern erlaubt sich hin und wieder Spiele mit Gedanken und Sprache, die streckenweise überraschend oder frappierend auf den Leser treffen, der sich gelegentlich sogar ertappt fühlen mag: „Und wieder überfiel sie die Unruhe, rein, ohne Überlegungen. Oh, vielleicht sollte ich laufen, vielleicht… Sie schloss für einen  Moment die Augen und gestattete sich das Entstehen einer Geste oder eines Satzes ohne jede Logik. Das tat sie immer, sie vertraute darauf, dass im Untergrund, unter den Lavamassen, ein Wunsch liegen könnte, der schon auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war.“

Die Jugend versus die Ehe

Dieser Wunsch, der nicht bewusst entsteht, sondern subkutan im Herzen brodelt, bis er sich an der Textoberfläche Ausdruck verschafft, wird auch von Joana selbst zuweilen fehlinterpretiert und führt zu den seltsamsten Entscheidungen und Selbstbildern. Zum Beispiel zu ihrer Ehe mit Otávio. Die Ehe und der Bezug zum Du sind zwar von Beginn an Thema, doch ist der Text formal in zwei Teile gespalten, deren erster Joana in ihrer Jugend begleitet, während der zweite das Leben in Ehe und deren Zerbrechen auf seine ganz eigene Art behandelt. Dabei changieren Erzählstimme und Fokalisierung stets zwischen einer Außenperspektive und der Ich-Erzählung zwischen einer Figur und der anderen, sodass dem Leser die sehr verschiedenen Innenwelten von Otávio, Joana und den weiteren Figuren (der Lehrer, die Frau mit der Stimme, Lídia) offenbart werden.

Obgleich der Text selbst in keinster Weise wertet, weder Taten noch Gefühle der Figuren be- oder gar verurteilt, so steht es dem Leser doch offen, das völlige Abstreiten jeglicher Verantwortung Otávios für den Ehebruch gegenüber der völligen Passivität Lídias aus genderperspektive zu lesen und zu bewerten. Auch hier beeindruckt die Präzision in Beobachtung und Beschreibung zwischenmenschlichen Verhaltens und zugleich die andere Art diese zu fassen.

Doch nicht nur Otávios und Lídias Gefühle und Affekte werden unter der Lupe von Lispectors Literatur schier zur Kenntlichkeit entstellt, sondern auch Joanas Schmerz, ihre Sehnsucht, ihre Wut verwandeln sich in Gedankengebäude und werden in Taten übersetzt, die nicht selten die Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Ratio und Wahnsinn zu überschreiten scheinen. Grenzen zwischen einem schemenhaften Diesseits und einem idealisierten, ja, was eigentlich? Jenseits? Anderen Ort? Es fällt schwer, dem einen Namen zu geben – jenem Ort des Anderen Zustands, wo eine sonst verborgene Alterität Raum und Ausdruck findet und der in allen Texten Lispectors eine wichtige Rolle spielt.

Lispector-Clarice-Der-LuesterVirgínia – Joanas Nachfolge?

Drei Jahre nach Lispectors Erstlingsroman, der in Brasilien in den höchsten Tönen gelobt wurde, erschien 1946 ihr zweiter Roman „Der Lüster“. Dieser wurde allerdings von der Kritik nicht so positiv aufgenommen wie „Nahe dem wilden Herzen“.

Virgínia heißt die Protagonistin, deren Geschichte, wie bei Joana, im Text immer wieder zwischen meandernden Emotionen und Sprachspiralen durchscheint. Sie wächst auf dem Bauernhof „Granja Quieta“ (deutsch etwa: Ruhiges Gehöft) der Großmutter auf mit dem Bruder Daniel, der Schwester Esmeralda sowie mit Vater und Mutter. Die Kindheit verbringt sie zumeist mit dem Verbündeten und zuweilen abusiven Daniel, die beiden erleben gleich auf den ersten Seiten einen Schock, der sich jedoch nur schemenhaft immer wieder im Text zeigt, wie ein verdrängtes Erlebnis, das zwar aus dem Unterbewusstsein drängt, doch nicht an die Oberfläche darf.

Erst Jahre später, nachdem sie in die Stadt gegangen ist und dort gelebt hat, als dann die Großmutter stirbt, stellt sie sich der Vergangenheit und auch der Erinnerung an eine Leiche im Bach, an den Tod des Hundes. Um dies zu verschleiern wird die Gesellschaft der Schatten gegründet, die Daniel bemächtigt über Virgínia zu bestimmen und ihr gegenüber grausam zu sein. Dieser Gesellschaft der Schatten beugt sich Virgínia bis hin zum Verrat an der älteren Schwester Esmeralda, deren nächtliche Treffen dem Vater berichtet werden. Doch ist Virgínia auch eigenwillig, stur und kreativ. Sie entflieht regelmäßig in ihre eigene Form von Meditation, im Zuge derer sie sich von Gedanken befreit und nur Gefühl ist.

Die extreme Subjektivität dieser Wahrnehmungen und das meditative Element durchziehen den Text auf mehr als einer Ebene. Virgínia gestaltet ihre Welt jedoch nicht nur in meditativer Versenkung, sondern wird sie auch regelmäßig vom Drang überwältigt Figuren aus Ton zu formen, den sie immer wieder neu knetet und anders verformt. Auch später, als sie in der Stadt lebt, zunächst zusammen mit Daniel, dann kurz bei zwei alten Cousinen und zuletzt alleine, hat sie ihren Koffer mit Lehm aus der Heimat, den sie immer wieder neu befeuchtet um ihn zu formen. Hier setzt sich auch die Affäre mit Vicente fort, die bereits in der Heimat begonnen hat und die, anders als bei Joana, eher von einem ausnutzenden Impetus von Seiten des Mannes geprägt sind als von Zuneigung und Faszination. Vicente ist ein berechnender Mann, sein Innenleben ist nicht geprägt von Erleben und Emotion wie das von Daniel oder, im Ersten Roman, von Otávio.

Schließlich tritt Virgínia die Reise zurück in die Heimat an, zur Beerdigung der Großmutter. Für ihre Entwicklung stellt dies einen Wendepunkt dar. Es bleibt offen, woher die Selbstsicherheit, die Bestimmtheit und der Ernst kommen, den Virgínia bei der späteren Rückkehr in die Stadt an den Tag legt, doch ist sie bereits Tage vor der Abfahrt ins Dorf in der Lage sich Vicente, ihrem Geliebten zu entziehen und ihre eigenen Entscheidungen unabhängig von „damals“ zu treffen.

Virgínia, warum Virgínia?

Ebenso wie bei „Nahe dem wilden Herzen“ lässt sich bei Lispectors zweitem Text eine recht offensichtliche Intertextualität feststellen und zwar mit dem ersten Roman von Virginia Woolf „Die Fahrt hinaus“ (übersetzt von Karin Kersten). Nicht nur fällt der Name der Protagonistin ins Auge, sondern auch die feine Beobachtung der kleinstädtischen Gesellschaft mit ihren Beziehungsgeflechten und der jungen Frau vom Lande mitten darin. Die Fahrt dieser jungen Frau verläuft bei Lispector zwar nicht mit dem Schiff wie bei Woolf, doch bringt sie der Zug auch zu Verwandten, hier sind es Cousinen, die sie aufnehmen und von denen sie sich emanzipiert, um sich ohne den Bruder in die städtische Gesellschaft (hier braucht es kein Hotel wie bei Woolf) zu stürzen.

Viel dreht sich um den weiblichen Körper, um Beziehungen zu Männern, um Gefühle, um Emanzipation vom Elternhaus, um Emanzipation als Frau, die in der Stadt nicht den ersten oder keinen heiraten muss. Um Emanzipation von der eigenen Geschichte und zuletzt womöglich von sich selbst. Obgleich das Ende des Romans den Text in die Tradition eines klassischen „weiblichen“ Bildungsromans stellt, dessen Figuren der Fabel gemäß entweder verrückt werden oder sterben, ist der Text komplexer und weniger eindeutig zu beurteilen. Denn auch hier werden durch die Verweigerung formaler Einteilungen, durch die zirkulierende, flüssige mäandernde Sprache, die Luis Ruby in erstaunlicher Weise im Deutschen nachahmt, durch die Fokussierung auf das Innenleben und die Gefühle der Figuren und nicht zuletzt durch die liebenswerte Naivität der Protagonistin und ihren Drang die Welt in sich aufzunehmen herkömmliche Lesekonventionen unterlaufen und die Fragen nach dem „was geschieht“ werden nutzlos.

Ein schwieriger und ein noch schwierigerer Text?

Zweifelsohne mag man nach erster Lektüre dem Übersetzer des „Lüster“ zustimmen, wenn er im Nachwort schreibt, dieser Text verlange eine langsame, bedächtige Lektüre, die sich Zeit lasse. Denn diese Zeit verlangt der Text vom Leser, der Text, der eine Meditation ist, während derer sich die Gedanken verflüssigen und auflösen, um zu dem zu werden, worauf es ankommt. Der Tod Virgínias lässt sich also dennoch positiv lesen, denn ist es nicht das letzte Ziel der Meditation sich in Erleuchtung aufzulösen?

Doch trotz oder gerade wegen der Anstrengung, die beide Texte vom Leser verlangen, lässt einen Clarice Lispector nicht mehr los, wenn man sich einmal auf ihre Schreibweise eingelassen hat. Und wir dürfen uns auch mehr freuen, denn die deutschen Leser erwartet noch eine Fülle an Texten von Clarice Lispector, die zwar doch sehr verschieden sind, aber auch alle jene Besonderheit in der körperlichen Schreibweise und dem Fühlen-Erleben haben, das auch die ersten beiden Romane ausmacht. Bedenkt man außerdem, dass diese außergewöhnliche Frau „Nahe dem wilden Herzen“ schon im Alter von 23 Jahren verfasste, vergrößert sich noch die Be- und auch Verwunderung angesichts des mittlerweile weltweiten Phänomens Clarice. Bleiben wir also gespannt auf das nächste Werk, dessen sich der Schöffling Verlag annimmt!

Christiane Quandt:

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Aus dem Portugiesischen von Ray-Güde Mertin und Corinna Santa Cruz. Schöffling & Co. 2013. 272 Seiten. 19,95 Euro.
Clarice Lispector: Der Lüster. Aus dem Portugiesischen und mit einem Nachwort von Luis Ruby. Schöffling & Co. 2013. 368 Seiten. 22,95 Euro.

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