Literarisches Husarenstück
–Wolfram Schütte über Christine Wunnickes literarische “Erfindung von Hollywood”.
Auch Hollywood, die riesige amerikanische “Traumfabrik”, hat einmal klein angefangen. Die Mehrzahl der einstmals mächtigen Studios – wie MGM, Universal oder Fox – wurden von meist osteuropäischen jüdischen Immigranten gegründet & nicht selten mit drakonischer Strenge geleitet.
Aber bevor es in den Zwanzigerjahren zur Gründung der über ein halbes Jahrhundert weltweit stilbildenden kalifornischen Produktionsstätten mit ihren riesigen Ateliers kommen konnte, mussten erst einmal die Fundamente dazu gelegt werden. Von den “Nickelodeons” des Anfangs zu den Stummfilm-Kinos, von den kurzen Paarminütern zu epischen Großfilmen wie “Intoleranz” von David Wark Griffith.
Die “Erfindung von Hollywood” sei das Werk von William Selig & Francis Boggs, zwei genuin amerikanischen Filmpionieren gewesen, behauptet Christine Wunnike in ihrem bei Berenberg erschienenen Buch. Es ist ästhetisch ebenso eigenwillig wie die Geschichte, die es erzählt. Und wie seine beiden “Hollywood-Erfinder” ist auch deren deutsche Autorin eine rätselhafte & bislang weitgehend unbekannte Person.
Die 1966 geborene Christine Wunnicke lebt in München und “Selig & Boggs” ist mitnichten ihr literarisches Debüt. Es firmiert auf ihrer Website als letzter ihrer bisher sieben Romane; weit umfangreicher aber ist die Zahl ihrer Hörspiele & Radio-Features. Nicht wenige klingen allein schon aufgrund ihrer exzentrischen Titel wie Fiktionen. Was soll man sich z.B. unter “Notenblatt für eine arg schlichte Spelunke” oder ”Little Albert, ein Alptraum” vorstellen?
“Selig & Boggs” annonciert “Die Erfindung von Hollywood” scheinbar als ein Sachbuch, irritiert einen als Leser nach einem Vorspruch & einem angeblichen Zitat von William N. Selig jedoch mit einer häuslichen Szene, die der Beginn einer historischen Erzählung zu sein scheint.
Da sitzt an einem Freitag, dem 6. Mai 1842, der Senator Lilburn W. Boggs in einem “gediegenen und bescheidenen Blockhaus”, das in heftigem Regen “auf dem verwaisten Bauplatz für die Stadt Zion der Heiligen der letzten Tage” im Staate Missouri steht. Als Staatsgouverneur war Lilburn Boggs berüchtigt gewesen. Denn er hatte verfügt, dass “alle Mormonen auszurotten oder andernfalls aus dem Staate Missouri zu vertreiben seien“.
Jeder Satz dieser fettlosen Erzählprosa enthält jedoch eine neue Information zur Vorgeschichte dieser häuslichen Genreszene. Während der ehemalige Senator in der erleuchteten Wohnstube eine Zeitung liest, schaukelt seine sechsjährige Tochter einen Säugling in der Wiege. Plötzlich schießt jemand vom Garten her das Fenster entzwei, durch das uns der Erzähler auf die beiden blicken ließ.
“An dieser Stelle”, beginnt der folgende Absatz,” musste Francis W. Boggs die Aufnahme unterbrechen”. So erfahren wir als Leser verblüfft, dass wir, ohne es zu ahnen, nur einer Filmszene zugeschaut hatten, die gerade aufgenommen wurde. Sie wird abgebrochen, alle Personen erstarren, weil eine Wolke das Licht im Atelier verdunkelt.
Wir befinden uns in Chicago an einem Herbstag 1907 auf dem Atelier-Gelände der Polyscope. Deren Besitzer ist der deutschstämmige William N. Selig. Sein junger Lichtspielleiter Francis Boggs, der hier gerade “Das Attentat auf Senator Boggs” – einen seiner eigenen Vorfahren – dreht, empfiehlt seinem Chef wegen des wechselhaften Wetters in Chicago doch nach Kalifornien zu ziehen.
Eine veritable Entdeckung
Damit knüpft die Erzählung an den Vorspruch des Buchs an. Er lautet: “1907 hatte Chicago zwei Millionen Einwohner und 116 Lichtspielhäuser. An 150 Tagen fiel Regen oder Schnee.- Die Bevölkerungszahl von Hollywood war unlängst auf 800 gewachsen. Die Trambahn nach Los Angeles brauchte zwei Stunden. Es gab keine Lichtspiele und es regnete nie”.
Mit diesen Kontrastaussagen ist gleich mehrerlei angesagt: Dass das Kino kommerziell floriert, wo & wenn das Wetter schlecht ist; und dass das Nest Hollywood in der Nähe von Los Angeles der ideale Produktionsort für Filme ist, weil einem das kalifornische Wetter keinen Strich mehr durch die Rechnung macht, wenn man seine Lichtspiele aufnimmt.
Von denen behauptet das angebliche Zitat aus der ”Commercial Bioscope News and Gazette” von 1908 großspurig: “Wenn wir den Zuschauer in den wilden Dschungel entführen oder in die goldene Pionierzeit des amerikanischen Westens, stützen wir uns stets auf wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Forschung. (…)Dafür steht die Selig Polyscope mit ihrem guten Namen ein”.
Genauso wie Christine Wunnicke mit ihrer erstaunlichen Kunstfertigkeit einsteht: für “Selig & Boggs“, wenn sie die “Erfindung von Hollywood” sowohl nach historischen Quellen erzählt, als auch wie einen Hollywoodfilm immer wieder mit kinematographischen Mitteln literarisch inszeniert.
Man muss aber als Leser dieser dicht gewobenen Prosa höllisch aufpassen, weil die Autorin dabei ungemein informations- & assoziationsreich, gewissermaßen polyvalent vorgeht. Ihre ausgewiesene Affinität zur Musik lässt den kleinen Roman fast wie die transparente Phantasie über ein vorgegebenes Thema erscheinen. Dabei erinnert Christine Wunnickes literarisches Husarenstück “Selig & Boggs” sowohl an die literarisch-biografischen Konzentrate des Franzosen Jean Echénoz als auch an die lakonisch-ironische Erzählweise Alexander Kluges. Buch & Autorin sind eine veritable Entdeckung!
Wolfram Schütte
Christine Wunnicke: Selig & Boggs. Die Erfindung von Hollywood. Roman. Berenberg, Berlin 2013. 110 Seiten. 20,00 Euro.