Gegen das Eis in uns
Alf Mayer über Camille Seamans Bildband über Eisberge.
Sie hat Wolken gejagt („The Big Cloud Series“) und geriet 1999 eher zufällig nach Kotzebue, Alaska. Zwischen 2003 und 2011 war sie dann jedes Jahr als Expeditionsfotografin an Bord von Forschungs- und Handelsschiffen in der Arktis und der Antarktis unterwegs. 2011 kündigte sie auf der „M/V Fram“, dem modernsten Forschungsschiff und Stolz Norwegens, sie hatte noch nie so wenig Eis erlebt bei einer Fahrt, es brach ihr das Herz – und sie kehrte in eine Welt zurück, der all das herzlich egal war, in der sich in den Aktionsplänen der Regierungen keine sonderliche Dringlichkeit erkennen ließ, keine Besorgnis über den Zustand der Polarregionen unseres Planeten. Nach Monaten der Depression wurde ihr klar, dass sie Botschafterin werden musste. So entstand ihr Fotoband „Vom Ende der Ewigkeit. Eine Reise durch bedrohte Polarwelten“, den der Prestel-Verlag nun zu einem relativen Volkspreis herausgebracht hat. Der englische Originaltitel benennt die faszinierenden, betörend schönen und oft auch ein wenig erschreckenden Fotos genauer: „Melting Away“. Die Kalauer-Redakteure von Spiegel-Online konnten der Formulierung nicht widerstehen: „Fotos zum Dahinschmelzen.“
Eigenbrötler, alte Knochen und Jungspunde
Eisberge sind für Camille Seaman Persönlichkeiten. Jeder hat seine eigene. Es gibt welche, die sich weigern, aufzugeben, Welche, die sich abseits halten. Einige sind erst einige tausend Jahre alt, andere mehrere hunderttausend. Die Fotografin zeigt die Eisberge in majestätischen Porträts, zeigt auf den insgesamt 75 Fotos den Zustand dieses weißen Teils unserer Welt. Die Bildtexte und Bildtitel haben manchmal einen schalkhaften Humor. Bei aller Würde, die von vielen Fotos ausgeht, ist dieses Buch kein Weihegottesdienst, keine ökofanatische Frömmelei. Aber es erteilt uns eine Lektion, hat die innere Freiheit eines Zen-Meisters – schön auch, wie sie in Kapitel V ihre Lehrzeit in Tibet beim großen Fotografen Steve McCurry beschreibt. Ihr Fotoband ist eine schöne, spannende Reise. Der knapp vierminütige TED-Vortrag, in dem Camille Seaman die zehn Jahre Arbeit im Eis referiert, macht das erfrischend klar.
Von der Stirn in die Wolken
Eine Schneeflocke auf die andere, immer wieder. Jahr für Jahr. Jahrzehnt für Jahrzehnt. Immer wieder. Das ist für Camille Seaman ein Eisberg. Eigentlich ist sie New Yorkerin, die Mutter afroamerikanisch-italienisch, der Vater ein Shinnecock-Indianer. Ihr Großvater war einer der noch 1300 Shinnecock auf Long Island nahe der Stadt Southampton, ein 3,3 Quadratkilometer großes Reservat. Er lehrte Camille viele Dinge. Einmal, an einem wolkenlosen Sommertag, als sie fünf oder sechs Jahre alt war, nahm er sie und ihre Cousinen und Cousins mit nach draußen und wies sie an, sich auf eine Wiese zu setzen, sagte dann nichts mehr. Die Kinder saßen und saßen, bis es heiß und heißer wurde und sie zu schwitzen begannen. Erst dann hob ihr Großvater einen Arm und zeigte auf eine kleine, weiße Wolke am Himmel, die immer größer wurde. Er sagte: „Seht ihr das? Das dort oben ist ein Teil von euch. Euer Wasser lässt die Wolke entstehen, die den Regen macht, der die Pflanzen gießt, die den Tieren als Nahrung dienen.“ An diesem Tag machte er Camille klar, dass alles miteinander verbunden ist. „Unser Wasser, unser Schweiß, ist ein Teil dieses Kreislaufs, genau wie unser ganzer Körper. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil von allem“, schreibt Camille Seaman in Kapitel III.
Einen Unterschied machen
Im Letzten Kapitel schreibt sie, dies auf unprätentiöse Weise, von der individuellen Ohnmacht und gleichzeitigen Macht jedes Einzelnen angesichts der aufziehenden Klimakatastrophe, von der sie sich – selbst keine Naturwissenschaftlerin – bei ihren Reisen in die Arktis und Antarktis eine Anschauung machen konnte. „Was kann ich tun, wirst du fragen? Ich bin nur ein einzelner Mensch.“ Die Antwort, die sie für sich fand: „Dass genau das, was ich tue, einen Unterschied ausmacht.“
Nie hätte sie gedacht, dass ihre Fotos in der ganzen Welt gezeigt würden und die Menschen auf eine je persönliche Art berühren. Es habe nicht den Anschein, als wäre es viel. Dass aber viele ihr versichern, Eis nach ihren Bildern nie wieder so sehen zu können wie vorher, das sei ihr all ihre Mühen und Strapazen wert. Das sei der eine kleine Unterschied, den sie bewirken könne.
Es ist ein großer. Groß wie ein Eisberg– und ebenso schön.
Camille Seaman: Vom Ende der Ewigkeit. Eine Reise durch bedrohte Polarwelten (Melting Away). Mit einem Vorwort von Elizabeth Sawin. Übersetzung Annegret Hunke-Wormser. Hardcover, Querformat, 160 Seiten, 75 farbige Abbildungen. Verlag Prestel, München 2015. 29,95 Euro. Zur Webseite von Camille Seaman. Camille Seamans TED-Talk über Eisberge. Camille Seamans Wolkenjagd hier und hier.