Buch mit Herzschlag-Faktor
Die Geschichte der Buchkunst mag ein Orchideenfach sein, die Kunst der Buchgestaltung eine aus scheinbar zweiter Reihe, weil sie ja nur „angewandte Kunst“ ist. Ja, es gibt sogar Bibliothekare und Leser, die Buchumschläge für überflüssig halten. Sie mögen sich fernhalten von einer Schatzkammer, in der Alf Mayer sich umgesehen hat.
Schon länger träume ich von einer Halle auf der Frankfurter Buchmesse, in der die Uhren auf die Jahre 1919 bis 1933 zurückgestellt worden sind. Zu sehen und nur gaaanz vorsichtig anzufassen gäbe es dort NUR jene 1000 Bücher aus rund 250 Berliner Verlagen, die der Berliner Ideal-Antiquar Jürgen Holstein und seine Frau Waltraud gesammelt und uns in einem Buch zugänglich gemacht haben. Bis dafür alle versicherungsrechtlichen und sonstigen Fragen geklärt sind, nehme ich vorlieb mit einem Werk, das zu den erstaunlichsten gehört, die mir je in meinem Bücherleben begegnet sind. Tusch also, großer Tusch für die Volksausgabe eines Wunderbuchs, eine Schule des Staunens, wie Wilfried Wiegand diese Sammlung nannte: „Buchumschläge der Weimarer Republik“. Auf 452 Seiten versammelt, findet sich hier derart unfassbarer ästhetischer Reichtum, wie ihn wohl nur ein international aufgestellter Verlag wie der von Benedikt Taschen für erschwingliches Geld unter die Leute zu bringen vermag.
Von Caligari zu Hitler
Die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren goldene in Sachen Kreativität und Kunst, vom Aufzug des Faschismus ebenso überschattet wie von den Träumen einer kommunistischen Utopie. Dieses Gold glänzte und schimmerte in der Weimarer Republik auf den Feldern aller Musen, uns heute noch am ehesten bekannt wohl in der damals jüngsten Kunst, dem Film. Die Filmhistorikerin Lotte H. Eisner erzählte in ihrem Buch „Die Dämonische Leinwand“ so beeindruckend von der Leinwandvielfalt jener Jahre, dass Werner Herzog 1974 barfuß und im Winter zu ihr nach Paris pilgerte („Vom Gehen im Eis“). Siegfried Kracauer fasste das Filmschaffen der Weimarer Zeit unter dem Titel „Von Caligari zu Hitler“ zusammen. „Das Kabinett des Dr. Caligari“ übrigens, von der Murnau-Stiftung unter internationaler Hilfe digital restauriert, entfaltet immer noch eine Kraft, die für einen Film seinesgleichen sucht. (Eine Kino-Aufführung, die zweite dieser Art, nämlich live von Musikern des Ensemble Modern begleitet, gibt es am 30. Oktober 2015 in Bad Soden bei Frankfurt, in der KULT-Kinobar.)
Dass die Zeit von 1919 bis 1933, der Machtergreifung der Nazis, auch auf dem Gebiet der Literatur und ihres Auftritts, also mit Typographie, Werbung und Buchgestaltung äußerst produktiv und experimentierfreudig war, ist Allgemeingut. Aber welche eine kreative Kraft sich damals ereignete, das wurde uns so geballt und opulent noch nie vor Augen geführt. Das von Jürgen Holstein herausgegeben Lese- und Schaubuch „Buchumschläge der Weimarer Republik“ wird keinen Bücherfreund kalt lassen. Ein Buch mit Herzschlag-Faktor.
Fünf große Kapitel und 1000 Bilder
Einzelne Beispiele kannten wir: die Buchumschläge für Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, Joseph Roths „Radetzkymarsch“, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Pitigrillis „Luxusweibchen“, Erich Kästners „Emil und die Detektive“, Marcel Prousts „Der Weg zu Swann“, Bert Brechts „Im Dickicht der Städte“, Walter Mehrings „Arche Noah SOS“, Strassnoffs „Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff“, Upton Sinclairs „Hundert Prozent“, Jean Gionos „Ernte“, Tucholskys „Das Lächeln der Mona Lisa“, Schnitzlers „Der Weg ins Freie“ oder Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“.
Aber dieses Wunderbuch enthält 985 Umschlagabbildungen mehr, behandelt in fünf großen Kapiteln und jeweils üppig illustriert Politik und Gesellschaft, Verleger und Verlage, Kunst und Künstler, Buchgestaltung und Literatur sowie herausgestellt, diverse Autoren, dies in zusammen über 80 Einzelkomplexen. Für Politik und Gesellschaft sind dies zum Beispiel Russen in Berlin, Fliegen – das neue Welterlebnis, Sowjetunion – Die große Utopie, Paragraph 218 – das Abtreibungselend, Anarchismus, Gefängnis, Krieg – das Grauen in Schrift und Bild, Sport – noch kein alles beherrschendes Thema. Bei Kunst und Künstlern begegnet man Hans Bellmer, Frans Masereel, Rudolf Schlichter, Jan Tschichold, John Heartfield, George Grosz und vielen, vielen anderen.
Ganz im Sinne Robert Musils, der darauf beharrte, „wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“ ist dieses Buch eine augenöffnende Dokumentation eines „besseren“ Deutschland, eines „Labors vorbildlicher Weltkultur“, wie Christoph Stölzl das in seinem exzellenten Vorwort formuliert. Das meiste davon wurde nach 1933 von Nazi-Stiefeln zertrampelt, als „entartet“ diffamiert und verbrannt, die Schöpfer verfolgt und ermordet oder aus dem Land gejagt. Eine Subgeschichte dieses Buches wäre für jedes abgebildete Objekt dessen Verfolgungs- und Unterdrückungsgeschichte. Dennoch sind sie nun alle hier: zugänglich, geehrt und kenntnisreich gewürdigt. Geschichte und Eigensinn in schier unermesslicher, beim ersten Durchblättern gar nicht erfassbarer Fülle, Alexander Kluge hat sich vermutlich ein Extra-Exemplar zum Ausschneiden besorgt.
Der freie Geist jener Zeit
Christoph Stölzl: „Wieviel geistvolle, mutige Verleger, wieviel originelle Positionen, wieviel Freimut bei den Themen! Es mutet immer wieder wie ein Wunder an, mit welcher Geschwindigkeit sich nach dem Ende des Kaiserreiches ein liberaler, aufklärerischer, international gesinnter Zeitgeist wenn nicht durchsetzte, so jedenfalls Gehör verschaffte. Von der Sozialismusdiskussion zur Frauenemanzipation und Jugendproblematik, vom politisch engagierten Reisejournalismus bis zur „jüdischen Frage“, von den Architektur- und Städtebaudiskussionen bis zum Kino – das Buch spiegelt den freien, neugierigen Geist jener Zeit und erzählt in den Biographien der Autoren, Verleger und Buchgestalter zugleich ein „Unwiederbringlich“.“
Frank Hermann etwa erzählt ausführlich vom untergangenen Verlag Die Schmiede, Berlin 1921 – 1929, wo Josef Roth verlegt wurde, unter anderem mit einem eindringlichen Umschlagbild zu „Die Rebellion“ oder Kafkas „Hungerkünstler“. Buchumschläge wurden damals von Künstlern wie Max Klinger, Bruno Taut, Max von Stuck, Olaf Gulbransson, Th. Th. Heine, Max Slevogt, Peter Behrens, Heinrich Zille, Karl Arnold, George Grosz oder John Heartfield gestaltet. Typographen und Schriftentwerfer wie Emil Rudolf Weiß, Walter Tiemann, Rudolf Koch und F.H. Ehmcke hatten starken Einfluss. Herauszuheben, wenn man das überhaupt tun soll, wäre Georg Salter, ein begnadeter Typograph, der nicht nur eigene Illustrationen beisteuern konnte, sondern den Inhalt des Buches, die Anforderungen des Buchmarktes und die Vorlieben des jeweiligen Verlegers geradezu genial zu vereinen wusste. Jürgen Holstein hat ihm jenseits dieses Buches einen eigenen Pracht-Katalog gewidmet.
Das Kapitel „Fünfzig schönste Bücher – eine Auswahl aus den vier Wettbewerben 1929-1932“ zeigt unter anderem Joseph Conrads „Freya von den sieben Inseln“, Karel Capeks „Das Jahr des Gärtners“, Walter Benjamins „Einbahnstraße“, Ludwig Wolffs „Menschen auf der Flucht“. Der Buchgestalter Emil Rudolf Weiße und Franz Hessels Flaneur-Bücher , Erich Kästner als Dichter für Groß und Klein, der rasende Reporter Egon Erwin Kisch oder der seine Bücher selbst illustrierende Walter Mehring, der dichtende Seemann Joachim Ringelnatz, der in Vergessenheit geratene Heinrich Wandt und seine „Etappe Gent. Streiflichter zum Zusammenbruch“.
Gesamtkunstwerke
„Der Buchumschlag“, führt der Berliner Buchgestalter Peter Nils Dorén in seinem großen Beitrag „Die Kunst, Blicke zu fangen. Über die Typographie auf Buchumschlägen und Einbänden“ aus, „ist eben nicht nur Werbemittel im eigentlichen Sinne, sondern er bietet dem Gestalter auch die Möglichkeit, sich im jeweils vorgegebenen Rahmen zu entfalten. In den gelungensten Beispielen eines Buchumschlags entsteht auf der Basis einer Interpretation des Buchinhalts durch Illustration, Photo und Typographie ein Gesamtkunstwerk.“ Dorén stellt in seinem auch für Laien gut lesbaren Essay die Formensprache der Schriftfamilien vor (gebrochene Schrift, Antiqua, Grotesk und Egyptienne, dazu noch Schreib- und Handschrift; in Großbritannien als Blackletter, Old face, Sans serif und Slab serif bekannt), erläutert das Für und Wider, zeigt Gestaltungsbeispiele für „Gebrochen, „Serifenlos“ und „Serifenbetont“.
Hier nun ist es an der Zeit auf eine frühere Version dieses Wunderbuches hinzuweisen. Auch Version Eins wurde vom Layouter Peter Nils Dorén gestaltet, eine gewisse Kontinuität ist also gewahrt. Insgesamt 400 glückliche Besitzer können sich an einer im wahrsten Sinne bibliophilen Erstausgabe erfreuen, sie erschien 2005 als heute teuer gehandelter Privatdruck mit dem Titel: „Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1918-1933“ (damaliger Verkaufspreis 198 Euro). Die Stiftung Buchkunst wählte es als eines der schönsten Bücher 2005 und urteilte: „Ein hervorragend aufgemachtes Fachbuch zum Thema. Wunderbare Reproduktionen, mit angenehm leisen typografischen Mitteln präsentiert. Übersichtliche Seitengestaltung trotz einer schier überbordenden Materialfülle. Sehr gute Papierwahl, die weder die Lesbarkeit noch die Qualität der Abbildungen beeinträchtigt. Buchbinderisch gut bewältigt.“
Herausgeber Jürgen Holstein, Jahrgang 1936, in Berlin geboren, arbeitete bei Bruno Hessling in Berlin und im Antiquariat Amelang in Frankfurt am Main, ehe er sich als hochgeachteter Antiquariatsbuchhändler selbständig machte, sich von Anfang auf Kunstwissenschaft und Literatur zur Kunst des 20. Jahrhunderts spezialisierte. Seine guten Beziehungen zu amerikanischen Bibliotheken sind legendär, die Bedeutung der osteuropäischen Avantgarde erkannte er vor den großen Auktionshäusern und Museen. Seine Kataloge sind Meisterleistungen des Genres. Weit mehr als 100 entstanden unter seiner Regie. Mit „Blickfang“ wollte sich das Ehepaar Holstein den Traum vom perfekten Buch erfüllen.
Wir nun, mit der Volksausgabe, fühlen uns ebenfalls im Traum. Im Bücherhimmel.
Und übrigens, dies für den Weg über die Buchmesse, wie sagte der große Kleinverleger Victor Otto Stomps? „Gute Bücher müssen auch gute Druckfehler haben.“
Alf Mayer
Jürgen Holstein (Hg.) Buchumschläge in der Weimarer Republik. (The Book Cover in the Weimar Republic.) Bildband mit Textbeiträgen von Jürgen Holstein, Nils Peter Dorén, Frank Hermann, Vorwort Christoph Stölzl. Verlag Taschen, Köln 2015 (englisch, deutsch). 452 Seiten. 49,99 Euro. Abbildungen: © Taschen Verlag. Mehr dazu hier.