Geschrieben am 9. April 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops

– lange Texte kompakt besprochen, heute von Klaus Kamberger (KK), Kirsten Reimers (KR) und Joachim Feldmann (JF).

Hand & Fuß

(KK) Kommt immer mal wieder vor – da springt ein Debütant mit Elan auf die Bühne, legt einen Erstling hin, der es in sich hat, bekommt sein Fett weg, will sagen: wird hoch gelobt. Und dann ist das Gejammer umso lauter, wenn der mit Spannung erwartete Zweitling nicht mehr so ganz dem entspricht, was man sich erhofft hat. Ging das nicht sogar einem Günter Grass so, als seiner „Blechtrommel“ leider keine zweite mehr folgte, oder z.B. einer Karin Struck, einem Salman Rushdie, einem Michel Houellebeqc und und und …?

Womit wir bei unserer erst kürzlich lauthals begrüßten Neuentdeckung Stephan Brüggenthies wären. Déjà-vu? Sagen wir mal: Ja – und nein. Und fangen mit dem „Nein“ an. Denn sein beachtliches Niveau hat Brüggenthies auch diesmal gehalten. Die Geschichte hat Hand und Fuß. Präzise recherchiert, voller überraschenden Wendungen. Und sie liest sich wie von selbst. Dass B. auch hier wieder nicht mit einem Spielort auskommt – zuerst geht es auf nach New York, wieder zurück nach Köln und dann über Holland in die Schweiz –, das hat  diesmal sogar mehr Stringenz als beim Vorgänger.

Auch die Art, wie B. hier „Historie“ lebendig macht, ist ein wahres Lehrstück: keine vollmundigen Belehrungen, keine schulmeisternden Ausflüge in unsere – immer noch lebendige – Nazi-Vergangenheit, sondern eine fundierte Auseinandersetzung mit den Lebensumständen verfolgter Juden und der sie verfolgenden Nazis und Arisierer, und dann mit den Folgen davon, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen.

Dem alten Samuel Weisberg gelang seinerzeit die Flucht nach New York. Jetzt sollen ihm der Kölner Kommissar Zbigniew Meier und seine junge Freundin Lena, die wir beide schon kennen, dabei helfen, seine damals verschollene Schwster zu finden. Und schon geraten beide prompt in einen Wust von oft lebensbedrohenden Ereignissen: Entführung, Mord, islamische Terrorzellen, Kunstraub, Plünderung geheimnisvoller Bankschließfächer, Querverbindungen von Köln-Wahn über das N.Y.P.D. bis nach Afghanistan. Und falsche Spuren zuhauf.

Doch damit wären wir dann beim „Ja“ angelangt.  Ja, der Roman erreicht nicht ganz das Tempo seines Vorgängers. Brüggenthies hat diesmal einfach zu viel hineingepackt. Statt Dynamik entsteht so bisweilen eher Hektik. Trotzdem: Weitaus lesbarer als vieles, was der übervolle Markt sonst noch zu bieten hat, ist „Die tote Schwester“ allemal.

Stephan Brüggenthies: Die tote Schwester. Kriminalroman. Frankfurt a.M.: Eichborn Verlag 2011. 440 Seiten. 16,95 Euro.
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Popcorngrusel

(KR) Die Familie Fletcher zieht in ein neues Haus direkt neben einem alten Friedhof in einem kleinen englischen Dorf. Die anfängliche Begeisterung über die gruselige Nachbarschaft lässt beim zehnjährigen Tom Flechter schnell nach: Unheimliche Stimmen verfolgen ihn, eine seltsame Gestalt scheint die Familie ständig zu beobachten, doch niemand glaubt ihm. Die absonderlichen Rituale des Dorfes tragen nicht gerade zur Beruhigung der Situation bei, und dann bricht auch noch ein Grab ein, in dem die Leichen von zwei ermordeten Kindern gefunden werden, die dort nicht hinein gehören.

Der Thriller von Sharon Bolton ist gut gemachte Popcornunterhaltung. Lange Zeit bleibt unklar, ob die Geschichte nun ins Übernatürliche rutscht; das macht es tatsächlich spannend und auch gruselig, denn Bolton setzt – trotz des martialischen (Original-)Titels – nicht auf grobe Effekte, sondern dezente Verunsicherung. Wenn dann schließlich klar wird, dass alles sehr diesseitig begründet ist, bleibt es gut motiviert und überzeugend verknüpft, denn Bolton versteht ihr Handwerk wirklich. Die Figuren sind weit genug von Klischees entfernt, um lebendig zu wirken, das Geschehen ist zwar eigentlich hanebüchen, aber doch so sinnig und folgerichtig verwoben, dass es Spaß bringt, in die schaurige Welt des abgeschiedenen Dorfes in der englischen Provinz zu abzutauchen.

Sharon Bolton: Bluternte (Blood Harvest, 2010). Deutsch von Marie-Luise Bezzenberger. München: Manhattan 2011. 510 Seiten. 16,99 Euro.
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School´s out …

(JF) Das Problem ist nicht neu. Aber früher konnte man es offenbar leichter lösen, zumindest suggerierten dies die Produkte der Populärkultur. Dem idealistischen Lehrer Richard Dadier (Glenn Ford) beispielsweise gelingt es in dem Film „Saat der Gewalt“ (Blackboard Jungle, 1955), die Anerkennung durch den aufsässigen Gregory Miller (Sidney Poitier) zu erringen und den wahren Störer des Klassenfriedens unschädlich zu machen. Sein deutscher Kollege, Oberstudienrat Dr. Hermann Seidel (Heinz Rühmann) nimmt Unterricht bei einem Catcher (Gerd Fröbe), um seine renitenten Eleven zu bändigen. Nachhaltiger Erfolg ist ihm aber erst beschieden, als er vom autoritären Sack zum kameradschaftlichen Pädagogen mutiert. (Der Pauker, 1958)

Samuel Szajkowski hingegen hat schon verloren, als seine erste Stunde an einer Londoner Schule in einem Desaster endet. Bereitwilliger als der linkische Geschichtslehrer im schlecht sitzenden Anzug kann man sich notorischen Klassenrüpeln nicht als Opfer präsentieren. Es beginnt ein psychischer und physischer Terror, der keine Grenzen zu kennen scheint. Von seinen Kollegen kann Szajkowski keine Hilfe erwarten, im Gegenteil. Ein Sportlehrer, der sich gerne als Kumpel der Schüler gibt, setzt die Quälerei im Lehrerzimmer fort. Und der Schulleiter stellt sich blind und taub. Bis Szajkowski an einem heißen Sommertag zur Waffe greift.

Fünf Menschen kommen bei dem Amoklauf ums Leben, drei Schüler, eine Lehrerin und der Täter selbst. Das öffentliche Urteil ist bald gefällt, Szajkowski war psychisch krank, eine tickende Zeitbombe. Für die Polizistin Lucia May, die Ermittlungen zu den Hintergründen des Verbrechens anstellt, ist die Sache jedoch nicht so klar. Doch ihr Vorgesetzter ist nicht an einer differenzierten Darstellung interessiert. Zudem wird ihr jeder Hinweis auf die Umstände, die zu Szajkowskis Tat geführt haben könnten, als Sympathiekundgebung für einen Kindermörder ausgelegt. Und schon bald spürt sie die Konsequenzen ihrer Beharrlichkeit.

„Ein toter Lehrer“, der Debütroman des 1976 geborenen Engländers Simon Lelic, ist eine verstörende Lektüre. Im Wechsel werden wir mit den frustrierenden Erfahrungen der jungen Ermittlerin und den Vernehmungsprotokollen konfrontiert. So entsteht das Bild einer zutiefst gestörten Gesellschaft ohne Aussicht auf Besserung der Verhältnisse. Weder für Szajkowski noch für den kleinen Elliot Samson, der von Mitschülern bis aufs Blut gepeinigt wird, scheint es Hoffnung gegeben zu haben, dass ihre Tortur einmal ein Ende haben würde.

Simon Lelic hat einen erzähltechnisch brillanten und höchst suggestiven Roman geschrieben, dem man vielleicht genau diese Qualitäten vorwerfen kann. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass dieses Buch, trotz seiner gesellschaftskritischen Elemente, auch einen weiteren Beitrag zu der immer wieder beliebten Dämonisierung von Jugendlichen liefert. Doch im Unterschied zu früheren Zeiten (siehe oben) gibt es nichts, was die Welt wieder in Ordnung bringen könnte.

Simon Lelic: Ein toter Lehrer. (Rapture. 2010). Roman.  Deutsch von Stefanie Jacobs. München: Droemer 2011. 348 Seiten. 16,99 Euro.
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